Die Entwicklung Ungarns nicht länger herunterspielen

Cornelia Ernst im Gespräch über ein drohendes Rechtstaatsverfahren gegen Viktor Orbán und seine konservative Lobby auf EU-Ebene

  • Alexander Isele
  • Lesedauer: 4 Min.

Das EU-Parlament will die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn überprüfen lassen. In einer Entschließung sprach sich die Mehrheit de Abgeordneten in der vergangenen Woche dafür aus, Artikel 7 des EU-Vertrags zu aktivieren. Drohen Viktor Orbán nun Sanktionen?
Das Parlament ist der Auffassung, dass Ungarn eine »schwerwiegende und andauernde Verletzung der EU-Verträge« begeht. Nun liegt es am Europäischen Rat, der mit einem Drittel seiner Mitglieder festzustellen hat, ob er den Beschluss aufnimmt. Allerdings wäre es für den Rat peinlich, wenn er den Ko-Gesetzgeber EU-Parlament ignoriert. Sollte sich der Rat positionieren, wird die Kommission Empfehlungen an Ungarn aussprechen und kontrollieren, ob diese umgesetzt werden. Erst wenn das nicht passiert, kommt es zu einer endgültigen Feststellung, dass Ungarn gegen EU-Recht verstößt. Dann können Sanktionen verhängt und Rechte und Pflichten entzogen werden.

Wann also könnten Sanktionen in Kraft treten?
Das ist ein unendliches Verfahren. 2010 kam Orbáns Partei Fidesz an die Macht, seit 2011 kämpfen wir im EU-Parlament mit zig Initiativen, dass sich etwas bewegt. Seit 2011 gibt es heftige Aktivitäten – Resolutionen, Debatten, das Herbeizitieren von Orbán. Er bietet immer wieder neue Anlässe – die Gleichschaltung des Verfassungsgerichts, die Einschränkung der Medienfreiheit, die Androhung, die Todesstrafe wieder einzuführen, die Verschärfung der NGO-Regeln, den Umgang mit Sinti und Roma, die Inhaftierungen und Internierungen der Flüchtlinge, das Hochschulgesetz, das die private Central European University zur Schließung zwingt, - das Parlament begleitet die Politik Orbáns von Anfang an. Allerdings sind die Aktivitäten auf bestimmte Fraktionen begrenzt – unsere Fraktion, die Grünen, die der Sozialisten und Sozialdemokraten und die der Liberalen. Immer, wenn es um Artikel 7 geht, haben die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) und die noch rechteren Fraktionen geblockt.

Zur Person

Cornelia Ernst ist Europaabgeordnete und unter anderem Mitglied des Ausschusses für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Sie ist zudem Sprecherin der Delegation DIE LINKE in der Linksfraktion GUE/NGL. Mit ihr sprach für „nd“ in Straßburg Alexander Isele.

Wie andere EU-Abgeordnete sieht Ernst in Ungarn schwerwiegende Verstöße gegen Menschenrechte durch die Regierung von Viktor Orbán. Das Parlament hat nun gehandelt, ohne auf die EU-Kommission zu warten. Der Vorschlag, ein formales Verfahren vorzubereiten, stammt von Sozialdemokraten, Liberalen, Linken und Grünen. Bei der Abstimmung am Mittwoch in Straßburg sprachen sich aber auch über 60 Abgeordnete der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) dafür aus. Zu der Fraktion gehört die Fidesz-Partei von Orban.

Ein Rechtstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags soll die Einhaltung der Grundwerte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gewährleisten. Es kann in letzter Konsequenz zum Entzug von Stimmrechten für ein EU-Land führen. Dafür müssen die Mitgliedstaaten aber zunächst einstimmig – Ungarn ausgenommen - eine »schwerwiegende und anhaltende Verletzung« von EU-Werten feststellen. nd/dpa

Fidesz ist Teil der EVP. Wieso hat die Fraktion die ungarische Regierung solange gedeckt, obwohl sie den Austritt von Fidesz gut verkraften könnte?
Orbán war immer der große Held der Wende in Ungarn, in diesem Sog kam er in die Nähe der Konservativen. Heute will in der EVP niemand der Nestbeschmutzer sein und Orbán kritisieren. Und es gibt eine große Lobby der Osteuropäer, die ihn unterstützen. Aber auch Abgeordnete wie Manfred Weber von der CSU haben wesentlich dafür gesorgt, dass das Geschehen in Ungarn auf europäischer Ebene heruntergespielt wurde. Die CDU/CSU stellt einen großen Teil der EVP, sie ist also mitverantwortlich.

Wie stehen die Chancen für die Annahme des Parlamentsbeschlusses im Europäischen Rat?
Die große Lehre aus der Demütigung von Griechenland war, dass die Staaten nicht alleine stehen wollen. Das war die Geburtsstunde der Visegrád-Gruppe, der die osteuropäischen Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn angehören und die eng mit Österreich gemeinsam im Rat ihre Interessen vertreten. Deren Regierungen sagen mehrheitlich, sie wollen keine Flüchtlinge aufnehmen – gar keine. Ob es zu einer Mehrheit im Rat kommt, ist fraglich, die Institution ist aber gefordert.

Horst Mahler hat Asyl in Ungarn gesucht. Auch wenn dies abgelehnt ist und er nach Deutschland ausgeliefert wird, gehen viele Neonaizs aus ganz Europa nach Ungarn. Hilft die ungarische Regierung beim Aufbau einer rechten europäischen Bewegung?
Die gibt es schon längst und sie ist gut vernetzt. Orbáns Ungarn spielt für sie eine wichtige Rolle. Die Transitzonen an der serbischen Grenze, in denen die wenigen noch ankommenden Flüchtlinge interniert werden, werden zum Vorbild für die Rechte in der EU. Es gibt ein Asylverfahren in Ungarn, aber ohne Einspruchsrechte, was ganz klar der EU-Gesetzgebung widerspricht. Dazu kommt, dass die ungarische Regierung Terrorismus und Migration gleichsetzt. Alle Flüchtlinge müssen einen Sicherheitscheck machen lassen, Asyl zu bekommen ist fast unmöglich. Das ist Propaganda zur Missbilligung aller Migranten.

Vergangenes Jahr scheiterte Orbán mit einem Anti-Flüchtlingsreferendum. Wie groß ist die Unterstützung für seine Politik in Ungarn?
Das Referendum gegen die EU-Flüchtlingsumverteilung wurde mit 95 Prozent der abgegeben Stimmen befürwortet, nur haben statt der benötigten 50 Prozent nur 45 Prozent der Wahlberechtigten daran teilgenommen. Orbán wird breit unterstützt. Er wurde 2010 auch mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt. Das sagt er auch jedes Mal, wenn wir ihn kritisieren. Neben Orbáns Partei Fidesz gibt es noch Jobbik, die offen rechtsradikal agiert und mit 20 Prozent drittstärkste Partei im ungarischen Parlament ist. Für alle, die gegen Orbáns Politik sind, ist es schwer. Wenn man in Ungarn ist, hat man das Gefühl, so muss es in den 1920ern und 30ern in Deutschland gewesen sein – diese Art der perfekten Gleichschaltung, diese Angst, nichts sagen zu können ohne in Misskredit zu fallen. Wir unterstützen alle demokratischen Kräfte in Ungarn, die sich gegen Orbán zur Wehr setzen. Ihnen gilt unsere Solidarität gerade jetzt.

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