Drei-Felder-Wirtschaft

Der Einzelhandel boomt, dennoch könnte die aktuelle Tarifrunde zu einer zähen Auseinandersetzung werden

  • Johannes Schulten
  • Lesedauer: 5 Min.

Einkaufen geht immer schneller. Nicht nur dank der Onlineriesen wie Amazon oder Zalando. Auch für Leute, die keine Lust auf langes Anstehen an der Kasse beim abendlichen Einkauf haben, bieten die meisten Supermärkte inzwischen einen Bringdienst an. Ganz anders die Tarifverhandlungen im deutschen Einzelhandel. Die hatten in den vergangenen Jahren Überlänge. 2013 brauchten ver.di und der Handelsverband Deutschland (HDE) rekordverdächtige 13 Monate, um sich auf ein Ergebnis zu einigen. 2015 waren es immerhin fast drei Monate. Beide Runden wurden begleitet von massiven Streiks.

Auch die seit Ende April laufende Tarifrunde 2016 hat das Potenzial für eine Hängepartie. Denn ver.di muss den Konflikt gleich an drei Fronten führen: Zum einen will die Gewerkschaft die Löhne und Gehälter der Beschäftigten verbessern. Bei den auf regionaler Ebene geführten Verhandlungen fordert sie ein Plus von sechs Prozent für zwölf Monate, eine Anhebung der Ausbildungsvergütungen um monatlich 100 Euro sowie ein tarifliches Mindesteinkommen von 1900 Euro. Davon ist der HDE mit seinem Angebot noch weit entfernt: In der dritten Verhandlungsrunde in Baden-Württemberg boten die Arbeitgeber 1,5 Prozent mehr Geld bis Mai 2018 und für das nächste Jahr ein weiteres Prozent. Eine Einmalzahlung von 150 Euro pro Jahr soll nicht in die Lohntabelle eingehen. Für Bernhard Franke, ve.rdi-Verhandlungsführer in Baden-Württemberg, wären damit «Reallohnsenkungen nach wie vor programmiert».

Die zweite Front bilden die seit fast 15 Jahren andauernden Verhandlungen über eine neue Entgeltstruktur für die Branche. Diese ist tatsächlich überholungsbedürftig. Viele Berufsbilder im Tarifvertrag sind alt und haben wenig mit der modernen Arbeitswelt zu tun. Doch der Handelsverband hat mit einer Überarbeitung anderes im Sinn: «Die Tarifbindung erhöht sich, wenn wir den Unternehmen zeitgemäße und praktikable Tarifverträge anbieten können», erklärt er. Im Klartext: Das Niveau soll abgesenkt werden. Dem Verband ist eine Neuregelung offenbar so wichtig, dass er das Zustandekommen eines Tarifabschlusses an eine Einigung in der Entgeltstruktur geknüpft hat.

Für ver.di macht es die Sache nicht leichter. Zum einen ist die Systemumstellung, bei der sich die Arbeitsplatzbewertung nicht mehr nach Kriterien wie Ausbildung und Berufserfahrung, sondern den jeweils ausgeführten Tätigkeiten richten soll, ohnehin hoch umstritten in der Organisation. Gegner befürchten einen Angriff auf Schutzmechanismen wie Zuschläge für Nachtarbeit und Mehrarbeit, Urlaubstage oder Weihnachtsgeld. Aber auch die Befürworter wollen eine Reform unter keinen Umständen mit der laufenden Tarifrunde verbinden.

Stattdessen macht die Gewerkschaft die dritte Front auf. Sie nutzt die Tarifrunde, um bei Politik und Unternehmen für eine gesetzliche Festschreibung der Tarifverträge für die gesamte Branche zu werben. Die sogenannte Allgemeinverbindlichkeit (AVE) galt bis ins Jahr 2000, d.h. auch Unternehmen, die nicht Mitglied im Arbeitgeberverband waren, mussten sich an die Regelungen halten. Dahin will ver.di zurück. «Deshalb haben wir zu den Streiks Tausende Beschäftigte aus nicht tarifgebundenen Unternehmen aufgerufen», erklärt ver.di-Tarifkoordinator Orhan Akman gegenüber «nd», «so können wir zusätzlichen Druck aufbauen.» Bei den großen Streikkundgebungen der letzten Wochen schwenkten auch zahlreiche Arbeiter von Amazon, Obi oder dem Spielzeugdiscounter Toys «R» Us ihre Fahnen. Im bayrischen Graben haben Beschäftigte ein Lidl-Zentrallager lahm gelegt, «in Solidarität» mit den Tarifbeschäftigten«, wie es in einer ver.di-Mitteilung hieß. Das Lidl-Zentrallager ist anders als die Lidl-Filialen nicht tarifgebunden. Unterstützung für die Forderung nach Rückkehr zur Allgemeinverbindlichkeit gab es zuletzt von ungewohnter Seite. Während der HDE eine gesetzliche Festschreibung ablehnt, haben sich mehrere Branchengrößen, darunter der Chef der Schwarz-Gruppe, Klaus Gehrig, dafür ausgesprochen, vor allem, um sich vor Dumpingkonkurrenz wie Amazon zu schützen.

Wie dramatisch es um die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel steht, geht aus einer gerade veröffentlichten Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken hervor. 2015 arbeiteten lediglich 38 Prozent aller in Westdeutschland Beschäftigten zu Bedingungen eines Verbandstarifvertrags. Das waren 7,3 Prozent weniger als 2012. Im Osten sieht es noch schlechter aus. Hier waren es 2015 lediglich 25 Prozent, gegenüber 33 Prozent 2012. Zahlreiche große Händler wie Obi, KiK, Amazon, Zalando oder Globus lehnen eine Tarifbindung rundweg ab. Aber auch die tarifgebundenen Supermarktriesen Rewe und Edeka flüchten sich aus der Regulierung, indem sie Hunderte Filialen von privaten Kaufleuten betreiben lassen. »Komischerweise sind die Discounter wie Netto, Aldi oder Lidl alle tarifgebunden, wenngleich einige nicht mitbestimmungsfreundlich sind, wenn es um die Gründung von Betriebsräten geht«, sagt Tarifkoordinator Akman. Dass ver.di nun in Sachen Allgemeinverbindlichkeit nach dem Staat ruft, ist wohl auch das Eingeständnis, die Situation nicht mehr aus eigener Kraft verbessern zu können.

Die Folge der gewerkschaftlichen Schwäche: Niedriglöhne und prekäre Arbeitsbedingungen sind die Regel. Jeder dritte Beschäftigte der Branche verdient weniger als zehn Euro pro Stunde, in der Gesamtwirtschaft ist es jeder fünfte. Auch Beschäftigte, die unter einen Tarifvertrag fallen, haben wenig zu lachen. Denn auf den Verkaufsflächen der Märkte wird praktisch nur Teilzeit gearbeitet. Laut Bundesregierung haben nur noch 1,19 Millionen Einzelhandelsbeschäftigte Vollzeitstellen. 1,13 Millionen haben einen Teilzeitvertrag und 680 000 sind Minijobber. Betroffen vor allem Frauen, die den Großteil der Beschäftigen im Einzelhandel ausmachen - außer in den Chefetagen. Ihre Perspektive: Altersarmut.

»Umso wichtiger, dass wir in den Streiks genügend Druck aufbauen«, meint Nils Böhlke, ver.di-Sekretär in Nordrhein-Westfalen, wo am 2. Juni über 3000 Beschäftigte auf der Straße waren. Die Beteiligung schätzt er höher ein als in der vergangenen Runde. Ein Grund: Ver.di hat zuletzt in einigen Unternehmen Tarifbindungen erkämpft. So waren bei den Streiks erstmals auch Beschäftigte von Zara oder Primark dabei. Am 20. Juni sollen die Verhandlungen in Düsseldorf fortgesetzt werden.

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