Krieg, Mundharmonika und Europa

Milenko Goranovics liest in Kreuzberg aus seinem Roman »Vom Winseln der Hunde«

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Mann, aufgewachsen in Deutschland, auf der Suche nach seinem Vater. Ein Vater, im alten Jugoslawien, auf der Suche nach seiner Geschichte, nach dem Beweis dafür, einmal außergewöhnlich gewesen zu sein. Ein junges Paar, das 1993 aus dem belagerten Sarajevo fliehen will, in dem es einen Musikladen geführt hatte, mit alten Schallplatten und einer alten Mundharmonika. Denn auch wenn Krieg ist, will man singen und tanzen. So eine Mundharmonika, richtig geblasen, kann ein ganzes Orchester sein - und im nächsten Moment verschwinden, in der Hosentasche, in einem Feldgeschirr, in einer zur Faust geschlossenen Hand.

Diese Mundharmonika verbindet die Geschichten vom Deutschen Kurt, der seinen Vater sucht, mit der von Teso, dem gescheiterten Kulturhausleiter aus dem bosnischen Camac, der dem Foto nachjagt, das ihn als 12-jähriges Maskottchen einer Partisaneneinheit zeigt. Und da sind noch Admira und Bosko, die auf der Vrbanja-Brücke in Sarajevo erschossen werden - eine Muslima und ein Christ, verliebt ineinander trotz der ethnischen und konfessionellen Kriege um sie herum, und die dank des Kriegsfotografen, der rechtzeitig kam, um ihren Tod zu dokumentieren, als »Romeo und Julia aus Sarajevo« bekannt wurden.

Es sind noch andere Geschichten, noch andere Leben, mit diesen genannten verknüpft, wegen der Mundharmonika, die durch ihre Hände ging, oder weil die Figuren von ihr wussten. Ganoven und Kriegsgewinnler aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg sind darunter, Zirkusleute und Hochstapler zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, zwischen Balkan, Ungarn und der alten K.-u.-K.-Metropole Wien. Sogar Geschichten aus Irak und aus Somalia, »unseren« aktuellen Kriegen, sind mit den Geschichten aus anderen, fern vergangenen Konflikten verknüpft. Milenko Goranovic baut mit kenntnisreicher Hand ein Panorama der europäischen Kriege der letzten 100 Jahre. Viele der Handlungsorte seines Romans kennt er auch aus eigener Anschauung, aus eigenem Erleben. Er wurde 1955 in Sarajevo geboren, leitete dort ein Theater und lebt seit 1994 in Deutschland - erst in der Gegend, in der sein Protagonist Kurt aufwuchs, später in Berlin, wo Kurts Mutter, die die Mundharmonika einst einem Partisanen gegeben hatte, mit Kurt schwanger wurde.

Goranovic knüpft in seinem Roman ein komplexes Beziehungsgeflecht, das immer wieder an Thomas Pynchon erinnert. Stehen bei Pynchon aber die Konstruktionen im Vordergrund, die technischen Belange von Informationsübermittlung, so liefert Goranovic Erzählungen. Goranovic fokussiert nicht auf böse Täter und arme, dramatisch gestorbene Opfer. Gut, auch sie kommen vor. Aber der Autor lässt die Oberflächenerregung entweichen, die tagtäglich die TV-Monitore befeuert und dadurch die Konsumentenseelen imprägniert. Er fokussiert vielmehr auf den Alltag, die Dauermomente vom Leiden, vom Sich Einrichten, vom Lachend-Scheitern und Verkrümmt-Überleben.

Mit wenigen Strichen gelingt ihm die Zeichnung seines Figurenarsenals. Mit knappen Beobachtungen fängt er Gemeinsamkeiten zwischen 20. und 21. Jahrhundert ein, etwa dann, wenn in beiden Jahrhunderten jemand vor einem Haus steht, in dem er selbst oder von ihm geliebte Personen gewohnt haben und in dem jetzt andere Menschen, Flüchtlinge, einquartiert sind. Goranovic schildert, in der Sprache, die nicht die seiner Mutter ist, sondern die seiner eigenen Fluchtdestination, wie zwischen Flucht und Krieg Gerechtigkeit verloren geht. Er stellt auch dar, dass Liebe zwar möglich ist, aber immer bedroht wird. Vor allem offenbart sein Buch »Vom Winseln der Hunde«, wie Menschenkinder, jung wie alt, geschädigt werden an Leib und an Psyche, allein dadurch, dass sie an die Ränder der Kriege gelangen. Ein großes Buch in einem kleinen grünen Einband.

Milenko Goranovic: Vom Winseln der Hunde. Roman. Wieser Verlag, 240 S., geb., 21 €. Der Autor liest aus seinem Buch am 9. Juni, 19 Uhr, im KLAK in der Fabrik, Paul-Lincke-Ufer 44a, Kreuzberg.

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