»Who is wir?«

Im Kino: »Axolotl Overkill« von Helene Hegemann

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

Es war still geworden um Helene Hegemann. Der Debütroman der damals 17-Jährigen hatte im Medienbetrieb allerdings auch eine solch ohrenzerfetzende Explosion ausgelöst, dass alles, was danach kam, nur noch als Stille empfunden werden konnte. Als »Axolotl Roadkill« Anfang 2010 erschien, waren viele Kritiker zunächst hin- und weggerissen von der jungen Autorin, »die ein Deutsch schreibt, das es noch nie gab: suggestiv wie Sowjetpropaganda, himmlisch rhythmisch, zu Hause in der Hoch- und Straßensprache und so verführerisch individuell« (Maxim Biller). Dann kam heraus, dass das Deutsch, das es noch nie gab, passagenweise aus einem Text des Bloggers Airen kopiert worden war. Dem aufgeblasenen Hype folgte die nicht weniger aufgeblasene Empörung. Wochenlang loderte die Debatte darum, was unerlaubtes Plagiat sei, was legitimes Sample.

Jetzt, sieben Jahre später, stellt Hegemann ihrem Roman einen Film zur Seite, und man durfte erwarten, dass sie die Flut aus Parfüm und Scheiße, die damals über sie hereinbrach, künstlerisch zurückschleudern würde. »Axolotl Overkill« hätte, zum Beispiel, ein Film werden können, der vor Referenzen an die Filmgeschichte birst und auf diese Art ironisch kommentiert, dass dem im Falle des Buches inkriminierten »Plagiat« im Kino oft genug als »Zitat« gehuldigt wird. So ist der Film aber nicht. Von Ironie weiß er gar nichts. Hegemann ist es dafür zu ernst um die Geschichte, die letztlich ihre eigene Geschichte ist. Die umwerfende Hauptdarstellerin Jasna Fritzi Bauer, deretwegen allein der Kinobesuch sich schon lohnt, macht aus der autobiografischen Grundierung des Drehbuchs jedenfalls keinen Hehl: Ihr sei bewusst gewesen, »dass ich eine Version von Helene Hegemann spiele, während Helene Hegemann mir dabei zusieht«.

Die regieführende Roman- und Drehbuchautorin selbst klagt über eine »faule Rezeption« ihres Buches und spricht von »verletztem Stolz«, der sie zum Film bewogen habe. Und so sieht »Axolotl Overkill« leider auch aus: wie der Versuch einer Richtigstellung. Das Buch - ein drastischer innerer Monolog der 16-jährigen Mifti, in dem das Leiden an der Einsamkeit sich paart mit intellektueller Reflexion, aus dem Zorn spritzt und Resignation, aus dem Lebensgier quillt und tödlicher Überdruss - wusste jeden, der es las, je nach eigener Lebensbelastung und moralischer Prägung, anzuklagen, aufzuregen oder schlicht zu faszinieren. Der Film hingegen liefert eine Draufsicht, die mich seltsam teilnahmslos lässt. Einem in seinem Selbstbestimmungsdrang und Gemeinschaftsbedürfnis so erbarmungslos fallengelassenen Men᠆schen wie jener Mifti in seinem Glanz und Elend lediglich zuzusehen, ist deutlich weniger berührend, als ihm ins Innerste zu folgen.

Eine schlüssige Handlung zeigt »Axolotl Overkill« erst gar nicht, deren Kenntnis wird vorausgesetzt: Mifti kommt nach dem Tod der Mutter aus der Provinz in den Moloch Berlin, wo der Vater als dekadenter Intellektueller lebt - Geld spielt keine Rolle -, sie zieht in das ewige WG-Provisorium der älteren, mit sich selbst überforderten Geschwister, verliebt sich in eine reife, letztlich unerreichbare Frau, lässt sich von Männern vögeln, die ihr gleichgültig sind, pfeift auf die Schule, der sie ohnehin überlegen ist, paddelt verloren und dennoch halbwegs souverän durch einen Sumpf aus Drogen und Diskursen. Von all dem erzählt der Film allenfalls in Bruchstücken. Die Idee, ein Mifti-Mosaik aus lauter separaten Szenen zusammenzusetzen, mag Helene Hegemann plausibel erschienen sein. Den Zuschauer, den deutlich weniger mit dieser zerrissenen Figur verbindet als die Autorin, der sie aus dem Herzen und aus dem Hirn wuchs, lässt das Stückwerk aber ziemlich allein.

Was an »Axolotl Overkill« besticht, ist seine Fähigkeit, jeder einzelnen dieser Szenen eine Atmosphäre zu entlocken, die dann doch wieder etwas Orientierung im Ganzen gewährt. Die mit der Handkamera ins drogenschwere Finsterlicht gerückten Partysequenzen in postindustriellen Ziegelgemäuern sind so verrucht, wie sie sein sollen. Orte wie die Designervilla des Vaters (Bernhard Schütz), der in seiner cool inszenierten Weltenthobenheit kindlicher wirkt als seine Tochter, atmen jene »Wohlstandsverwahrlosung«, die Miftis Leben prägt. (Beim Blick aus dem riesigen Fensterloch, das von der Abrissbirne geformt zu sein scheint, legt der Vater einmal den Arm um die Schulter der Tochter und spricht in königlicher Pose den Satz: »Das alles, mein Sohn, wird einmal dir gehören.«) Und durch das übergangslose Abschweifen aus hartem Realismus ins apokalyptisch Surreale entgeht der Film geschickt der Gefahr, als ein Sozialdrama missverstanden zu werden, das er nicht ist.

Vor allem aber lebt »Axolotl Overkill« von der ungeheuren Ausstrahlung seiner drei wichtigsten Schauspielerinnen. Jasna Fritzi Bauer, während der Dreharbeiten im Jahr 2015 bereits 26, ist als Kindfrau Mifti ein Ausbund von schriller Verachtung und kühler Sehnsucht. Arly Jover als ihre ältere Geliebte: ein Englisch sprechender Engel der Finsternis, dem Verheißung und Enttäuschung ins strenge Gesicht gemeißelt sind. (Auf Miftis Vorschlag: »Wir sollten heiraten«, reagiert sie wie der kalte Windstoß auf die Kerzenflamme: »Who is wir?«.) Mavie Hörbiger schließlich als Miftis mal genialisch, mal katastrophisch unbeirrbare Verbündete Ophelia ist ihrer jungen Freundin Stütze und Stolperstein zugleich. Kraft ihrer klugen und unbestechlichen Souveränität straft die Schöne alle Blondinenwitze Lügen.

Nicht zu vergessen die Tiere, die im Film ihre unschuldigen Gastauftritte als atmende Metaphern haben, darunter ein paar Lamas, ein Pinguin und - natürlich - der Axolotl. Dieser betörend hässliche mexikanische Schwanzlurch macht durch zwei außergewöhnliche Eigenschaften auf sich aufmerksam: Zum einen wachsen ihm abgetrennte Körperteile einfach nach. Zum anderen verharrt er bis zum Tode im Larvenstadium, scheint also das augenscheinliche Erwachsenwerden zeitlebens zu vermeiden. Helene Hegemann ist inzwischen 25. Wir sind gespannt, was sie mit 50 schreiben und drehen wird.

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