Der antiautoritäre Impuls

Von Rechts wird reaktionäre Kritik an der angeblichen Verseuchung durch die 1968er geübt. Eine Zurückweisung

  • Hajo Funke
  • Lesedauer: 9 Min.

Das Thema 1968 ist überraschend aktuell. Denn gegen den mit der antiautoritären Studentenbewegung seit 1967 auf den Weg gebrachten Umbruch macht die reaktionäre Rechte Front. Es war einer der Vorsitzenden einer inzwischen in Turbulenzen befindlichen, teils rechtsradikalen Bewegungspartei, Jörg Meuthen, der von einem »links-rot-grün verseuchten (wahlweise: versifften) 68er-Deutschland« sprach und seine Bewegungspartei als reaktionäre Antwort auf die Herausforderungen der antiautoritären 68er präsentiert.

Nahezu unversehens ist so die Erinnerung an 50 Jahre Studentenbewegung keineswegs einfach nur Nostalgie, sondern durchaus politisch. Ihre Interpretation ist von Bedeutung für eine angemessene Beurteilung der gegenwärtigen demokratisch-politischen Kultur im Land.

Der antiautoritäre Impuls der Studentenrevolte hatte auf der Basis der Frankfurter Schule in zwei Richtungen gezielt: zum einen gegen den doktrinären Parteisozialismus sowjetischer Herkunft, zum anderen gegen den durch die Erziehung dominierenden autoritären Charakter, der für Ausprägung und Unterstützung des Nationalsozialismus und die fehlende Auseinandersetzung mit diesem als verantwortlich erachtet wurde.

Das Fehlen einer solchen Auseinandersetzung ordnete schließlich Theodor Adorno in seiner fundamentalen gesellschaftlichen Kritik in »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« am Ende der 1950er Jahre (1959) nicht nur den autoritären individuellen Strukturen zu, sondern der Tatsache, »dass die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten. Er kann nicht wesentlich aus subjektiven Dispositionen abgeleitet werden. Die ökonomische Ordnung und, nach ihrem Modell, weithin auch die ökonomische Organisation verhält nach wie vor die Majorität zur Abhängigkeit von Gegebenheiten, über die sie nichts vermag, und zur Unmündigkeit. Wenn sie leben wollen, bleibt ihnen nichts übrig, als dem Gegebenen sich anzupassen, sich zu fügen; sie müssen eben jene autonome Subjektivität durchstreichen, an welche die Idee von Demokratie appelliert, können sich selbst erhalten nur, wenn sie auf ihr Selbst verzichten.« Adorno betont weiter: »Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.« Er sah deswegen Grenzen einer aufklärenden Pädagogik. »Nimmt man jedoch das objektive Potenzial eines Nachlebens des Nationalsozialismus so schwer, wie ich es glaube nehmen zu müssen, dann setzt das auch der aufklärenden Pädagogik ihre Grenzen.«

Der antiautoritäre Impuls war umfassend und mit den Theorien und Analysen der Frankfurter Schule und ihrer Vision einer demokratisch freien Gesellschaft ebenso gesellschaftstheoretisch wie für die Entwicklung eines nicht autoritären Individuums begründet. Er bestand sowohl in einem politischen als auch einem pädagogischen Konzept: Es ging um das Verhältnis von politisch- sozialer Struktur und psychischen Eigenschaften einzelner Menschen, von gegebener (ökonomischer) Ordnung, Politik und subjektiven Dispositionen; nur wenn Ökonomie, Politik und Individuen sich zugunsten einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft entwickeln, bestehen Chancen für die Befreiung des Individuums, die Bildung demokratischer Individuen in einer entsprechenden freien Gesellschaft. Das war ihre konkrete Vision.

Ein autoritäres Individuum dagegen folgt einer inneren und äußeren Handlungsweise, wobei es sich fraglos einer fremden Instanz unterwirft und nichts kennt als sich zu fügen und sich anzupassen: (blinder) Gehorsam. Die autoritäre Persönlichkeit folgt strammen Konventionen, ist unterwürfig gegenüber Autoritäten und aggressiv gegenüber Schwächeren, es mangelt ihr an Empathie und Mitgefühl und sie richtet ihre Aggression projektiv auf Schwächere, auf sogenannte Sündenböcke.

Die autoritäre Mentalität der sogenannten Vergangenheitspolitik der beiden ersten Bonner Legislaturperioden und deren moralisch vielfach skandalösen Ergebnisse hatten seit Ende der 1950er Jahre in wachsendem Maße Gegenkräfte mobilisiert, die in der folgenden Phase den Bruch mit der Vergangenheitspolitik durch neue Trägergenerationen einleiteten. Diese Phase der Vergangenheitsaufarbeitung währte in ihrem Kern bis Ende der 1980er Jahre und in ihren Nachwirkungen bis heute. Sie bezog ihre Impulse aus einer endlosen Reihe von Skandalen, personellen und institutionellen Kontinuitäten, deren seriöse historische Erforschung, wie Frei schreibt, erst beginnt.

Der Auschwitzprozess hat das zuvor schon angegriffene, aber weiterhin vorherrschende Beschweigen auf breiter Front aufgebrochen, zugleich indes klargemacht, in welchem Maße die nationalsozialistischen Funktionseliten von einer systematischen Bestrafung befreit geblieben waren. Dies hat bis heute nicht nur zu moralischer Entrüstung, sondern auch zu einem tiefempfundenen Gefühl historischer Ungerechtigkeit vor allem unter Opfern beigetragen.

Es hat diese Problematik nicht vereinfacht, dass aus der DDR, von der man sich gleichzeitig hoch moralisch abzugrenzen bemühte, wichtige und ernstzunehmende historische Belege etwa in der Kampagne gegen Hans Globke, Staatssekretär im Kanzleramt und vormaliger Kommentator der Nürnberger Rassengesetze, oder gegen den nationalsozialistischen Ostexperten und später zum Vertriebenenminister berufenen Theodor Oberländer kamen. Parallel wuchs der Kreis derjenigen, die sich mit der Forderung nach einer ernsthaften Vergangenheitsaufarbeitung identifizierten: von Theodor W. Adorno bis Karl Jaspers und Jürgen Habermas, bei einer Reihe liberaler Publizisten und bei einem Teil der Zeitgenossen. Mit der Durchsetzung des Auschwitz- Prozesses existierte ein zwar noch minoritäres, aber höchst aktives Netzwerk von Politikern, Juristen, Künstlern und Intellektuellen. Die mühsam erreichte Ablehnung einer Verjährung 1965 war ein weiterer Beleg, dass man sich nicht mehr wie in den 50er Jahren mit der Strategie billiger Entlastung und des Verschweigens durchsetzen konnte.

Für einen Teil der insgesamt pluralen Studentenbewegung hatte sich die zunächst durchaus plausible Taktik der Provokation verselbständigt und sollte den angeblich faschistischen Charakter der Republik kenntlich machen. Dieser Teil radikalisierte sich immer weiter und griff zu Gewalt, so zu der durch nichts gerechtfertigten Steine-»Schlacht am Tegeler Weg« Anfang November 1968 gegen Polizisten, mit initiiert von einem Teil des SDS, der sich später einer auch nach innen äußerst autoritären maoistischen Gruppe verschrieb. In diesem Kontext wurde Bezug genommen auf eine »Kulturrevolution«, die sie mehr oder weniger genau an der chinesischen Kulturrevolution gesehen hatten und die dort längst eine totalitäre Veranstaltung war, die zum gewaltsamen Tod von mehr als 400 000 Menschen geführt hat.

Wiederum bei anderen blieb eine selbstkritische Wahrnehmung ganz aus, so etwa bei Horst Mahler, der alsbald einer der Strategen der RAF wurde und mit anderen vor keiner Gewalteskalation zurückschreckte, ehe er sehr viel später zu einem rabiaten neonazistischen Antisemiten und vehementen Verteidiger der NPD im ersten Verbotsverfahren wurde. Horst Mahler hat über sich Aufschluss gegeben und sich dabei als jemand gezeigt, der in seinem bereits damals irritierenden Autoritarismus offenkundig an den Ideen der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft seiner Eltern, vor allem seines Vaters, festgehalten hat und inzwischen in einem überbordenden Antisemitismus schwelgt.

Wolfgang Kraushaar hatte in früheren Veröffentlichungen auf Abgründe antisemitischer Gewalt aufmerksam gemacht: auf die Gruppe der »subversiven Aktion«, auf die nicht gezündete Bombe im jüdischen Gemeindezentrum in der Fasanenstraße am 9. November 1969 und die Rolle des Geheimdienstlers Peter Urbach. Er hat darüber hinaus die Identifizierung der 68er mit dem Abwehrkampf der Vietnamesen in seinem Doppelcharakter beschrieben: Zum einen sei es um die Unterstützung von Friedensbemühungen und die Initiierung öffentlicher Kampagne zur Beendigung der US-Militärintervention gegangen, zum anderen jedoch um die Propagierung eines vermeintlich revolutionären Kampfes im eigenen Land.

Zugestanden ist, dass auch die Rede Rudi Dutschkes auf dem Internationalen Vietnamkongress von Illusionen über eine revolutionäre Destabilisierung der imperialistischen Machtzentren in den Metropolen durchzogen war. Aber von hier aus eine Linie zu ziehen und von einer weitgehenden Blindheit zu sprechen, die sich auch noch im Fall der Roten Khmer zeige, schiebt Dinge zusammen, die man bei einer differenzierten Betrachtung der 68er-Bewegung nicht zusammenschieben darf.

Es ist somit eine falsche Generalisierung, wenn man ausdrücklich oder durch die Präsentation den Eindruck erweckt, dass Akteure wie Teilnehmer der 68er-Bewegung im Ganzen »wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt« (Kraushaar) von einer solchen Gewaltneigung, ja vom Ursprungsmythos der Gewalt, der Sexualität und des Mythos »Dritte Welt«, gesteuert gewesen seien.

Ich stimme mit der Einschätzung von Knut Nevermann, dem 1966 zum Vorsitzenden des FU-AStA gewählten damaligen Kommilitonen, in seinem Beitrag für den Tagesspiegel vom 2. Juni 2017 überein: »Wenn wir damals gewusst hätten, was wir heute (über das Ausmaß an personeller NS- Kontinuität) wissen, wessen Bewusstsein wäre da nicht noch radikaler geworden. Nebenbei: auch in dieser Frage hatten wir recht.« Und: »Die politische Kultur der Bundesrepublik war nach 1968 eine andere: demokratischer, pluraler, politischer, linker.«

Unbestritten kam es zu einer fundamentalen Demokratisierung der Erziehung und Bildungsansprüche, zur Delegitimation vordemokratischer Konzepte von Autorität und Hierarchie und zu einer konfliktbereiteren demokratischeren Gesellschaft als »Resultat einer Revolte im Zeichen der Revolution, die zum Fortschritt der Reform beitrug« (Axel Schildt). Die Vorstellung einer freien Gesellschaft der Gleichen aus linkssozialistischen und linksgewerkschaftlichen Kreisen scheiterte an politischen und ökonomischen Verhältnissen; es sind »unabgegoltene« (Oskar Negt) Visionen für eine solche freiere und gleiche Gesellschaft. Die Voraussetzung waren Utopien und Visionen einer freien, nicht autoritären, sozial gerechten und friedlichen Gesellschaft, die als Anstachelung wirkten und - wenn es gut ging - zum produktiven Zusammenstoß und Abgleich von Realität und Vision führten.

Der größere Teil der Studentenbewegung machte in den oppositionellen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre mit, in freiheitlich-linkssozialistischen Kreisen wie dem Sozialistischen Büro, wo so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Elmar Altvater, Wolf-Dieter Narr oder der Frankfurter und später Hannoveraner Linke Oskar Negt aktiv waren, in Gewerkschaften, der SPD und später den Grünen, vor allem aber in Emanzipations-, Frauen-, Dritte-Welt-, Umwelt- und Friedensinitiativen und -Bewegungen - und nicht zuletzt in pädagogischen und Medien- Berufen.

Genügend Utopien und, ja, Visionen, um weiterzumachen und sich zugleich Sisyphus als glücklichen Menschen in Erinnerung zu rufen, gab es und gibt es. Zu den wichtigsten, gegenwärtig gar nicht so inaktuellen Lehren gehört, dass es selbst unter gesellschaftlich autoritären Rahmenbedingungen soziale, kulturelle und politische Alternativen gibt: Es geht zum einen um ein Weniger an autoritärer Willkür und an kalter Kriegseskalation und zum anderen um ein Mehr an Demokratie und einer Vervielfältigung der Lebens- wie der politischen Gestaltungsformen.

Wir haben die Erfahrung machen können, die vielleicht nicht eine Anleitung zum Aufstand, aber doch eine zum Ungehorsam, zum nicht Mitmachen und zur strategischen Suche nach besseren Alternativen ist. Und: Dass man in diesen Anstrengungen nicht alleine sein muss, sondern sich zusammentut und letztlich eine Vorstellung von Gesellschaft mitträgt, die niemanden, erst recht keine Kinder oder, wie heute, keine Geflüchteten allein lässt.

Die reaktionäre Kritik von Rechtsradikalen und Rechtspopulisten an der angeblichen Verseuchung durch die 68er fordert eine demokratische, nicht-autoritäre Erziehung jenseits eines rigiden Leistungs- und Elitedrucks - also im Sinne der Utopie von Gleichen, Freien und Gleichberechtigten - erneut heraus. Sie ist aktueller denn je. Die Verteidigung einer nicht-autoritären, sozial sensiblen Demokratie ist die entscheidende progressive Antwort auf die Angriffe der Reaktion.

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