Einer für alle

Ines Wallrodt über den Kampf um Tarifbindung im Einzelhandel

Die sechste Verhandlungsrunde in Baden-Württemberg am Donnerstag könnte mit einem ersten Abschluss in der bundesweit laufenden Tarifrunde im Einzel- und Versandhandel zu Ende gegangen sein. Die Arbeitgeber hatten zuvor bei den Lohnforderungen Entgegenkommen signalisiert. (Die Verhandlungen liefen bis Redaktionsschluss.) An der zweiten wichtigen Front, die ver.di in dieser Tarifrunde aufgemacht hat, war jedoch keinerlei Bewegung zu beobachten. So fordert die Gewerkschaft von den Arbeitgebern, gemeinsam die Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Eine Rückkehr zum Credo »Einer für alle« würde Tarifflucht und Lohndumping im Einzelhandel entgegenwirken, mithin strukturell die Lage der vornehmlich weiblichen Beschäftigten verbessern. Doch die Arbeitgeber lehnten das kategorisch ab. Und ver.di wollte die Verhandlungen an dieser Frage nicht platzen lassen.

Was jetzt als Teufelszeug gilt, war bis zum Jahr 2000 üblich. Dann kündigten die Arbeitgeber den bis dahin geltenden Konsens auf. Seither nimmt die Tarifflucht zu. Nur noch rund 30 Prozent der Einzelhandelsunternehmen in Deutschland und 21 Prozent im Groß- und Außenhandel sind tariflich gebunden. Statt über ihre Produkte oder Service konkurrieren sie nun über Lohnkosten. Ohne Tarifbindung zahlen Unternehmen durchschnittlich 25 bis 30 Prozent weniger. Die Lohndumper sind dabei gar nicht die Discounter. Netto, Aldi oder Lidl sind - in dieser Hinsicht - Vorbild. Es sind große Händler wie Esprit, Amazon oder Zalando, die eine Tarifbindung ablehnen. Die Marktriesen Edeka und Rewe wiederum sind zwar selbst tarifgebunden, ihre ausgegliederten Filialen jedoch oftmals nicht.

Die Gewerkschaft hat dem wenig entgegenzusetzen. Nur noch ein Drittel der drei Millionen Beschäftigten im Einzelhandel arbeitet in Vollzeit, die Mehrheit in Teilzeit oder als Minijobber. Unter diesen Bedingungen ist es schwer, Belegschaften zu organisieren und für harte Arbeitskämpfe zu mobilisieren. Bleibt ver.di im Augenblick nicht viel mehr, als auf die Politik Druck zu machen, die hohen Hürden für die Allgemeinverbindlichkeit abzubauen. Das hatte die Große Koalition angekündigt, doch die erfolgte Reform hat ihr Ziel verfehlt. Denn sie hat die Vetomacht der Arbeitgeber im entscheidenden Tarifausschuss nicht gebrochen. Darin sitzen je drei Vertreter der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und die müssen sich einig sein, dass ein Tarifvertrag vom Ministerium für alle in der Branche festgeschrieben wird. Bislang haben die Arbeitgeber jeden Vorstoß in diese Richtung abgeblockt, selbst wenn die betroffenen Tarifparteien einer Branche dafür sind. Diese Blockademöglichkeit muss abgeschafft werden. Die Gesellschaft kann kein Interesse daran haben, dass eine Branche für Millionen Beschäftige ein Armutssektor bleibt.

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