G20-Kontrollen: Polizei verwechselte Zeugen mit Straftätern

LINKE-Abgeordneter Schrader spricht von rechtsstaatlich zweifelhaftem Vorgehen / Mehrere aus Hamburg kommende Busse nach Berlin in Stolpe aufgehalten

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: 3 Min.

Es klingt wie ein Stück aus dem Tollhaus. Unter der Einsatzleitung der Berliner Polizei wurden nach dem G20-Gipfel Kontrollen von acht aus Hamburg kommenden Reisebussen und zwei Kleinbussen angeordnet. Der Polizei lagen Erkenntnisse vor, dass sich die Insassen der Reisebusse angeblich in einem Protestcamp zum Gipfel in Hamburg-Altona aufgehalten haben, von dort sollen schwere Straftaten begangen worden sein. Eine Führungskraft des Berliner Landeskriminalamtes ordnete deshalb an, die Identität der Reisenden als Zeugen feststellen zu lassen.

So weit, so rechtmäßig. Nach einer Änderung der Strafprozessordnung kann auch die Identität von Zeugen festgestellt werden. Doch der dann folgende Einsatz war von schweren Pannen gekennzeichnet, wie aus der Antwort der Innenverwaltung auf zwei bislang nicht veröffentliche Schriftliche Anfragen der Abgeordneten Niklas Schrader und Hakan Taş (beide LINKE) hervorgeht, die »neues deutschland« exklusiv vorab vorliegen.

Demnach führte die 25. Einsatzhundertschaft der Berliner Bereitschaftspolizei »aufgrund eines Übermittlungsfehlers«, wie es in der Antwort heißt, Kontrollen zur Identitätsfeststellung von Straftätern und nicht von Zeugen durch. Die Innenverwaltung erklärt: »Die dort eingesetzten Kräfte gingen irrtümlich davon aus, dass sich unter den zu kontrollierenden Personen Tatverdächtige schwerer Straftaten befanden, welche sich während des G20-Gipfels in Hamburg ereignet hatten.« Aber nicht nur im rechtlichen Status der kontrollierten Personen und der allgemeinen Rechtsgrundlage irrten sich die Beamten: Die 25. Einsatzhundertschaft befand sich darüber hinaus auch am falschen Rasthof. Statt in Stolpe in Mecklenburg-Vorpommern auf der Autobahn 24, wo am 9. Juli gegen 12.14 Uhr die Kontrolle begann, sollte die großangelegte Aktion der Berliner Polizei am Rasthof Stolper Heide in Brandenburg an der A111 stattfinden. Die Maßnahme in Mecklenburg-Vorpommern wurde dann auch kurzfristig um 12.28 Uhr wieder abgebrochen, um dann ab 14.10 Uhr bis 18.28 Uhr in Brandenburg fortgesetzt zu werden.

Mit insgesamt 668 Polizisten war die Polizei am Rasthof Stolper Heide vor Ort. Auch hier wurde die Maßnahme der Identitätsfeststellung nach einer rechtlichen Prüfung wieder abgeändert. Die Anfertigung von Lichtbildern war nicht gerechtfertigt, alle vorab und ohne Einwilligung der Betroffenen angefertigten Lichtbilder mussten gelöscht werden. Insgesamt wurde an dieser Stelle von 284 Personen die Identität festgestellt - darunter auch die der 40 Personen, die bereits in Mecklenburg-Vorpommern in die Kontrolle geraten waren. Abschließende Zahlen zu den kontrollierten Personen und den durchsuchten Gepäckstücken liegen nicht vor, die Auswertung dauert an.

»Die Vorgehensweise der Berliner Polizei war unprofessionell und rechtsstaatlich zweifelhaft«, sagt der LINKEN-Abgeordnete Niklas Schrader dem »nd«. So seien Personen, die keiner Straftat verdächtig waren, unter Berufung auf eine vermeintlich notwendige Gefahrenabwehr durchsucht, teilweise auch Fotos ohne Einwilligung der Betroffenen gemacht worden. Hinzu kommen die von den Betroffenen geschilderten Vorwürfe der Körperverletzung und Beleidigung. Auch die Kommunikation innerhalb der Polizei scheine chaotisch gewesen zu sein, glaubt der Abgeordnete, der von Polizeipräsident Klaus Kandt und von Innensenator Andreas Geisel (SPD) eine selbstkritische Aufarbeitung dieser Vorfälle erwartet.

Doch nicht nur die Politik dürfte der Einsatz der Polizei erneut beschäftigen. Nach nd-Informationen vernetzen sich derzeit Betroffene der Kontrolle, unter denen sich auch Reisende von zwei Linienbussen befanden. »Es geht um Fortsetzungsfeststellungsklagen mit dem Ziel, dass die Rechtswidrigkeit dieser Kontrolle festgestellt wird«, sagt der Rechtsanwalt Sven Richwin dem »nd«. Der Anwalt war seinerzeit bei der Kontrolle in Brandenburg vor Ort. Er berichtet von »eingekesselten Businsassen«, Menschen, die bei großer Hitze keine Getränke kaufen durften und nicht auf Toilette gelassen wurden. Also Formen von Gewahrsamnahmen, die bei einer Zeugenmaßnahme unverhältnismäßig seien. Zudem stellt sich aus Sicht des Anwalts auch die Frage, ob das Abkommen zwischen Berlin und Brandenburg die Kontrolle abdeckt: So sei von Brandenburger Polizisten nichts zu sehen gewesen. Überdies ermittelt die Polizei nach einem Medienbericht auch intern: Sie prüft, ob auf dem Rasthof Stolpe in Mecklenburg-Vorpommern Businsassen von Polizisten geschlagen und beleidigt worden sind.

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