Ein chinesischer Napoleon?

Helwig Schmidt-Glintzer hat eine Biografie über Mao Zedong verfasst

  • Wolfram Adolphi
  • Lesedauer: 4 Min.

Erneut ist Gelegenheit, auf eine bemerkenswerte Mao-Biografie aus deutscher Feder hinzuweisen. Nach Charlotte Kerners »Rote Sonne, Roter Tiger« vor zwei Jahren erschien nun ein Band von Helwig Schmidt-Glintzer, Jg. 1948, Direktor des China Centrums Tübingen. Offensichtlich wecken die nachhaltig interessanten Entwicklungen der 1949 gegründeten Volksrepublik China und der 2021 anstehende 100. Jahrestag der Gründung der Gongchandang, der Kommunistischen Partei Chinas, das Bedürfnis, den Verbindungen zwischen dem heute weltweit aufsehenerregenden wirtschaftlichen Aufschwung, der Erhöhung des Lebensstandards und der Vergrößerung des internationalen Gewichtes des Landes einerseits und der Lebensleistung und dem Erbe Mao Zedongs andererseits ernsthafter und gründlicher nachzuspüren als bisher.

Schmidt-Glintzers Werk gliedert sich in die Teile »Lehrer«, »Stratege« und »Visionär«, womit der auf Verstehen und Begreifen angelegte Grundgestus schon treffend umrissen ist. Erzählt wird in unterhaltsamer Sprache und mit Spannung. Berichtet wird über Maos Jugend im durch die revolutionären Aufbrüche von 1911, 1919 und 1925 bis 1927 von Grund auf erschütterten China. Der Teil »Stratege« umfasst die zweieinhalb Jahrzehnte, in denen sich Mao mit der Revolutionierung der Bauernmassen, dem Kampf gegen die japanische Aggression und dem Zusammengehen mit der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und schließlich mit der Gründung der Volksrepublik 1949 zum unumstrittenen Partei- und Staatsführer entwickelte.

Im Teil »Visionär« sind die letzten Lebensjahrzehnte bis zum Tod am 9. September 1976 zusammengefasst. Da wird über den Bruch mit der Sowjetunion, die Dramen des Jahres 1957 (»Die Rede vom Papiertiger, vom Ende des Kolonialzeitalters und der Ansatz zum ›Großen Sprung‹«) und die sogenannte Kulturrevolution 1966 bis 1976 (»Mobilisierung der Massen - Rebellion bleibt berechtigt«) sowie die Hinwendung zum Westen 1972 (»Personenkult nach innen - Realpolitik nach außen«) ausführlich informiert. Der Abschnitt »Die schwierige Rückkehr Deng Xiaopings« macht deutlich, wie es jenem trotz seiner Demütigung durch Mao in der »Kulturrevolution« und trotz der Unterschiede im politischen Kurs gelingen konnte, sich 1978 als »Sachwalter Maos« zu etablieren.

Schmidt-Glintzer leistet mit seinem Buch einen interessanten Beitrag zum Begreifen dessen, was er in der Einleitung eine der »erstaunlichsten Erscheinungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts« nennt: nämlich, dass Mao trotz »Großem Sprung« und »Kulturrevolution«, die dem Land »Elend, Willkür und Brutalität« brachten, »weiterhin die verehrte Zentralfigur Chinas geblieben ist«. Den Grund dafür sieht der Autor darin, dass die von Mao und seinen Mitstreitern für China »angestrebte Entwicklungsrichtung sich im Prinzip bis heute als Erfolgsweg« erweise. Maos »Projekt, China eine angemessene Stellung in der Welt zu verschaffen«, stehe weiterhin im Zentrum des Handelns der Führung in Beijing.

Das Buch enthält eine Fülle von Anregungen zu neuerlichem Durchdenken auch bekannter Zusammenhänge. So ist es natürlich wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass »die Oktoberrevolution in Russland und die internationale kommunistische Bewegung … zunächst Maos unverzichtbares Vorbild« waren. Und ebenso wichtig ist es, daran zu erinnern, dass diese russische Revolution nicht nur auf die späteren Kommunisten eine mächtige Anziehungskraft ausübte, sondern auch auf »die Nationalisten« - gemeint ist die Guomindang -, die »die antiimperialistische Komponente« der Revolution ebenso »bewunderten« wie auch »die Tatsache, dass es sich bei der Oktoberrevolution … um eine Massenbewegung gehandelt hatte«.

Dass Schmidt-Glintzer diese Bewunderung als »erstaunlich« beschreibt und die Massenbewegung mit »zumindest vermeintlich« abschwächt, ist schade. Auch die Bemerkung, dass der KP-Mitbegründer Chen Duxiu »zunächst England und die USA als Modell propagiert und erst Mitte 1920 seine Bekehrung zum Marxismus verkündet« habe, greift zu kurz, um der Komplexität der Ausstrahlung der Oktoberrevolution und der damit verbundenen Verbreitung marxistischen - und leninistischen - Gedankenguts gerecht zu werden.

Die Einbettung der chinesischen Revolution in einen weltübergreifenden Prozess ist nicht ganz des Autors Stärke. Das wird vor allem dann problematisch, wenn die Würdigung Maos einhergeht mit einem gleichzeitigen Festhalten am nur allzu bekannten, damit aber nicht richtiger werdenden Totalitarismus-Schema. Weil es Maos Verdienst sei, »dass China heute als zusammenhängender und geordneter Staat existiert«, gehöre er - meint Schmidt-Glintzer - »vielleicht weniger in eine Reihe der Diktatoren mit Hitler oder Stalin«, sondern »eher zusammen mit Reichseinigern wie Karl dem Großen, Napoleon oder Abraham Lincoln«. Wie das mit den drei Letztgenannten ist, soll hier unerörtert bleiben. Aber warum Mao nun entschieden von Stalin getrennt werden soll, zugleich aber Hitler und Stalin in einer Schublade verbleiben - das bleibt des Autors vom Zeitgeist gedecktes Geheimnis.

Helwig Schmidt-Glintzer: Mao Zedong. »Es wird Kampf geben«. Eine Biografie. Matthes & Seitz. 465 S., geb., 30 €.

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