»Eine große Zeit«

Zum Tod des Filmregisseurs Egon Günther

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Ein Beweis kann langweilen, wie es Wahrheit tun kann. Etwas Bewiesenes erlischt im Moment, in dem es bewiesen ist. Es fordert nur zum Ja-sagen auf. Zur Unterwerfung also. Deshalb gibt es die Künstler, die jeder Wahrheit, die feststeht, ihre eigene Wahrheit entgegensetzen, das, was sie bewegt. Der junge Dramaturg Egon Günther geht Ende der fünfziger Jahre mit dem Regisseur Slatan Dudow übers DEFA-Gelände in Babelsberg, und Dudow sagt: »Wenn ich vor einem Atelier stehe, in dem ein Kollege dreht, weiß ich schon von da draußen, dass er alles falsch macht.«

Egon Günther hat sich diesen Satz gemerkt. Er ist nicht arrogant oder ignorant, dieser Satz, er ist Bekenntnis zur ureigenen, nicht übertragbaren Wahrheit der Kunst. Die in jedem Künstler neu geboren werden muss und nach der er, wenn es eines Tages ans Bilanzieren geht, befragt wird. Und wenn etwas gelungen sein sollte, dann ist aus Wahrheit das geworden, was noch entscheidender ist: Wahrhaftigkeit. Egon Günther war ein großer, bedrängender, berührender Wahrhaftiger.

1927 wird er im erzgebirgischen Schneeberg geboren. Lernt Schlosser, Konstruktionszeichner, studiert in Leipzig Germanistik und Philosophie. »Ich habe nie vergessen, was mir als Arbeiterkind möglich wurde.« Bloch erkundigt sich im Seminar: »Warum rauchen Sie nicht?« Die Frage als Einladung zu einem Denken in familiärer, entspannter Atmosphäre. Als Dramaturg bei der DEFA bekommt Günther die unerwartete Chance für eine Regie: »Lots Weib« - eine Frau will sich von ihrem Mann trennen, ausgerechnet einem NVA-Offizier. Die erste Begegnung mit staatlichem Misstrauen.

Er wird Bechers »Abschied« verfilmen - und gemeinsam mit Drehbuchautor Günter Kunert vom Premierenempfang ausgeschlossen, der Film wird unterdrückt. »Das Kleid« (nach »Des Kaisers neue Kleider«) wird verboten, ebenso »Wenn du groß bist, lieber Adam«: Träume eines Jungen fernab der parteibeschlossenen Realität. Und doch: Günther wird - zäh und zielstrebig - einer der bedeutendsten DEFA- und Fernseh-Regisseure. Das Schlimmste aber: Als der Prager Frühling niedergewalzt wird, da verurteilt die DDR seinen Sohn, siebzehn Jahre alt - weil man sich gegenseitig Brecht-Verse vorgelesen und offen zugegeben hatte, dabei an Dubček gedacht zu haben.

Günther, der 1978 die DDR mit DDR-Pass verließ, hat sein Bewusstsein für die Kritik der Verhältnisse nie verraten. Im Westen dann so wenig wie im Osten. Nie hat er sein Bewusstsein auf den Weg des geringsten Widerstandes geschickt. Er nannte den Regisseur Andrei Tarkowski, dieses hermetische Genie, seinen »alten Freund«, und mit ihm war er sich einig: »dass das Raffen nach Geld die Sünde des Eigentums« sei.

Am eigenen Leibe, zu dem ja das Denken gehört, hat Günther in Studios und Sendern der alten und neuen Bundesrepublik die Kälte der Quotentreiber erfahren. Aber sehr, sehr vorsichtig ist er nach 1990 mit der Verführung umgegangen, aus dieser Kritik kapitalistischer Verhältnisse eine nachträgliche Umschönung des kleinsozialistischen Miefs zu betreiben. Und doch nannte er die DEFA-Zeit »eine große Zeit«. Nicht im roten Orgelton, sondern im Ton erlebter Arbeit - mit Könnern, mit Unternehmungslustigen, die sich gern übernahmen im Anspruch, im Ansatz, im Anflug auf die Lebensgründe. Eine Zugehörigkeit muss man eben erleben, nicht definieren.

Er war der Sanfte, der störrisch blieb - aber auch der Eigensinnige, der sich zurücknehmen konnte. Der leise innere Emigrant in die Welt der Bilder. Die aufleuchteten, ohne immer gleich lesbar zu sein als Inbilder oder gar Bedeutungsträger. Diesem Künstler ließ sich nichts in ein einfaches Ja oder Nein spalten. Günthers Ästhetik, seine Schaffensart adelte jene Ränder, wo Deutschlands beste Energien stets auf eine Stunde warten, die nie kommt. So rang er in seinen späten Jahren vergeblich um einen Nietzsche-Film. Als ginge alles nur um dessen einen Satz: »Wir müssen beständig unsre Gedanken aus unserem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängnis in uns haben.« Günther dachte, fühlte Nietzsche, als stünden ihm seine Lehrer Ernst Bloch und Hans Mayer Pate. Solche Lehrer stehen Pate, wenn es um jenes »Wirklichgewollte« (Volker Braun) geht, das an allen Wirklichkeiten scheitert.

Nietzsche. Wie lautete das Wort? »Mütterlich.« Günther, der stilbewusst Männliche im blauen Jeansanzug, den Kragen hochgeschlagen, den Bürstenhaarschnitt sehr gepflegt, die Füße gern in Stiefeletten, sie erinnerten an den Reiter, der er aus meditativer Lust war - er war der Mann des Mütterlichen. Er nahm als Regisseur nicht Vorgänge ab, er gab Leben, er beschützte es, indem er Schauspieler frei werden ließ in deren unantastbarem Eigensinn. Wolf Kaiser (»Ursula«), Rolf Ludwig (»Der Dritte«, »Stein«), Veronica Ferres (»Die Braut«).

Besonders an Jutta Hoffmann zeigte sich die spezielle Zuneigungsenergie des Regisseurs. »Junge Frau von 1914«, »Anlauf«, »Der Dritte«, »Die Schlüssel«, »Lotte in Weimar« - Arbeit über Jahre als Arbeit an einem Werk besonderer Wirkung: Alles Spiel atmet, wenn man so sagen darf, höchst präzise Nachlässigkeit, in jeder Figur mobilisiert die Hoffmann einen kernhaften Rest von eigener, unantastbarer Erfahrung. Es ist etwas Unschauspielerisches, das da in Bewegung gesetzt wird - ohne aber die Gestalt mit trübem Alltagsschimmer zu überziehen. Egon Günther hat dieses von ihm geliebte Wechselspiel, »einzutauchen in die Rolle und wieder herauszukommen«, vor allem im Film »Die Schlüssel« zu einem ästhetisch-ethischen Experiment gesteigert, das SED-Kulturpolitik in Nervennöte brachte. Ein DDR-Liebespaar in Krakow, Jaecki Schwarz und die Hoffmann; ihre Ric stirbt. Eine Tragödie ausgerechnet im Bruderland?!

Was Günther bei seinen Schauspielern liebte und beförderte, beschrieb er auch an Klaus Löwitsch, der im Feuchtwanger-Mehrteiler »Exil« die Hauptrolle gab (erst erschrak des Schriftstellers Witwe, dann war sie nur noch begeistert). Er mochte diesen Löwitsch. Obsessiv, eine Natur des Gegenangriffs, fähig für das Gestalten von Helden, die in Ankünften versagen, aber Meister des Fortgehens sind, die eine Zeit widerspiegeln und die zugleich etwas an sich haben, das jeder Gegenwart entkommt.

Günther verfasste einen wunderbaren Essay über Löwitsch, er war ja auch Schreibender, und einige Jahre sah er für »neues deutschland« Filme auf der Berlinale. Im Text über Löwitsch heißt es: »Mit wachsender Spannung, die irgendwie bis heute nicht nachgelassen hat, folge ich dem, was ich unter Schauspiel verstehe: in fremden Schicksalen unterzukommen, aber sich selbst dabei nicht aufzugeben. Also Stehen und Gehen, Sitzen, Liegen, Fallen und Aufstehen wären zu klären, laut und leise, fröhlich oder traurig und vor allem Geduld, mit sich und der Rolle. Und nebenbei die Dinge des gewöhnlichen Lebens bestehen, die ihre eigenen Tücken haben und immer und ewig und drei Tage bei uns sind, wie der kleine dunkle Bruder, von C. G. Jung in uns aufgespürt, der kleine dunkle Bruder, der mit abgewandtem Gesicht in uns einfach so da ist und uns unser Gespaltensein spüren lässt, egal, was du machst.« Da weiß einer was vom unrunden Leben. Es ist immer auch die Verheißung dessen, was es uns nicht erfüllt. Wie die Liebe.

Im Jahre 1975 entstand »Lotte in Weimar«. Die DEFA als Partner-Agentur. Wer mit wem? Mathilde Danegger mit Vittorio de Sica? Oder Inge Keller mit Max von Sydow? Egon Günther suchte und suchte. Am filmglückhaften Ende war Lilli Palmer die Lotte, und Martin Hellberg verwandelte sich in Goethe, als gelte es nicht, zu spielen, sondern zu sein. Günther später: »Lilli kam, jung, fröhlich, arrogant. Herrlich!« Und sie habe sich immer »totgewundert«, was an Offenheit und Abenteuer beim Drehen noch möglich sei. Zur Premiere des Films kam sie nicht, sie kam überhaupt nie wieder in die DDR. »Irgendwann am Ende der Dreharbeiten hat sie Angst gekriegt, es ist irgendwas passiert, an der Grenze, ihr Auto wurde durchsucht oder so. Ich spürte ihren Umschwung.« Stets hatte die Palmer »die saubere Arbeit« der DEFA-Profis hervorgehoben, nun diese Verschmutzung der Atmosphären. Günther: »Mich hat das elend gekränkt.«

Dieser Künstler träumte vom »friedensbereiten Menschen«, in einem möglichen Sozialismus. Das Scheitern nannte er den Grundauftrag von Kunst, das kam vom besagten hohen Anspruch. Lächerlich also, wie viele erfolgreiche Leute es heute gibt! Aber freilich: Erfahrung ist nicht weiterzugeben - sagte der Filmregisseur, der aus Berufung Erfahrungen weitererzählte. Was er erzählte, war Schönheit. Die besteht darin, dass den Antworten aufs Leben so vieles fehlt - und nur in neuen Fragen wieder zurückkehrt. So entstanden Filme über die Hoffnung, dass die bohrende, fesselnde, frei machende Frage »Warum?« niemals endgültig ins abwinkend gegrummelte »Wozu?« umschlägt. Nun ist Egon Günther im Alter von 90 Jahren gestorben.

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