Maas' Nationalmärchen von einem guten Land
Der Bundesjustizminister unterbreitet seine Strategie gegen Rechts - und blendet wichtige Fakten aus
Seine Streitschrift will erklären, wie die völkisch-nationalistischen Bewegungen und deren Partei, die AfD, in großen Teilen der Bevölkerung Anklang finden und was »wir« dagegen tun können. »Wir«, das ist bei Heiko Maas einmal die »schweigende Mehrheit der Bevölkerung«, dann wieder sind alle Deutschen gemeint, das »Wir« wird in Eins gesetzt mit der Nation: »Natürlich nehmen wir nicht mehr Menschen auf, als Deutschland verkraften kann.« Es kommt aber auch vor, dass deutsche Kapitalinteressen, von denen im Buch des Sozialdemokraten ansonsten kaum die Rede ist, in dem »Wir« einen Ort finden: »Wir wollten ausländische Arbeitskräfte, weil sie ein Gewinn für unsere Wirtschaft waren.«
Der Bundesjustizminister kritisiert in aller Schärfe »rechtspopulistisches Denken«: »Wir dürfen uns dem Hang zu Verallgemeinerungen ... nicht hingeben. Dieser Strategie dürfen wir uns nicht anpassen. Was wir tun müssen, ist genau hinsehen.« Er mahnt »Differenzieren« an, biegt sich jedoch seine Wirklichkeit zurecht. So bedient er exakt die Argumente, denen er etwas entgegenzusetzen glaubt. Ohne ein einziges Mal über Gewinn, Profit oder kapitalistisches Produzieren zu reden, geißelt er Mietwucher, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, steigende Armut. Weder Unternehmer oder Immobilienhändler noch das zugrundeliegende Prinzip der profitheischenden Warenproduktion und des übermäßigen Grund- und Hausbesitzes werden als Verursacher dieser »sozialen Verwerfungen« benannt. Die »Globalisierung im Sinne der neoliberalen Ideologie« sei Schuld an der Misere.
Neben der anscheinend aus dem Nichts kommenden Globalisierung gibt es noch einen weiteren Schuldigen: die Rechte (in Form der AfD). »Die Rechtspopulisten höhlen den Arbeitsschutz aus, verringern die Mitbestimmung, verhindern eine Vermögenssteuer.« Dass die SPD unter Kanzler Gerhard Schröder mit den von Joschka Fischer angeführten Grünen die Vermögenssteuer abgeschafft hat und alles tut, dass es dabei bleibt - kein Wort. Dass es Arbeitgeber sind, die Betriebsratsrechte beschneiden und Gesundheitsschutz als lästige Pflicht betrachten - kein Wort davon.
Maas deklariert: »Gewalt hat in der Politik nichts zu suchen und darf niemals toleriert werde, egal ob sie von links oder von rechts kommt.« Dass der bürgerliche Staat - den er als das Nonplusultra einer gerechten Gesellschaft denkt - immer wieder mit seinen Bütteln (Militärs & Polizei) im Ausland wie im Inland Gewalt anwendet, um ökonomische oder andere nationalpolitische Ziele zu stabilisieren bzw. zu erreichen, wissen die meisten. Wer erinnert sich nicht an den Satz von Verteidigungsminister Peter Struck (SPD): »Die Sicherheit Deutschlands wird am Hindukusch verteidigt.«
Maas ruft seine Leser und Leserinnen dazu auf, »für Demokratie, Weltoffenheit, Menschenwürde auf die Straße zu gehen«. Wer im Vorfeld des G20-Treffens in Hamburg erlebt hat, wie Gerichte alles versuchten, um das Demonstrationsrecht auszuhebeln, wer erlebt hat, wie während der Proteste Hunderte von Demonstranten und Demonstrantinnen niedergeknüppelt wurden und wer im Nachhinein die Wahrheit über die Lügen der Polizei zu verletzten »Kameraden« erfuhr, der kann über Maas’ moralisches Dogma in Bezug auf Gewaltfreiheit in einer Demokratie nur staunen. Wer Märchen auftischt, muss sich nicht wundern, wenn die »Streitkultur unserer Demokratie vor die Hunde geht«.
Man kann der Kritik von Maas an »der gefährlichen Sehnsucht nach dem starken Mann« bei den »neurechten« Gruppierungen wie auch an Donald Trump, Wladimir Putin oder Viktor Orbán zustimmen. Doch Maas selbst bezieht sich als Vorbild ausgerechnet auf einen Genossen, der für autoritäre Strukturen, militärisches Gehabe und alles andere als Streitkultur stand: Helmut Schmidt. Dessen Befürwortung von U-Boot-Exporten ins faschistische Chile, dessen Unterstützung ehemaliger Waffen-SSler in der SPD und dessen Plädoyer für die Aufrüstung Westdeutschlands gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung waren für Demokraten und Demokratinnen unerträglich.
Maas’ Buch krankt an dem, was er den »Neurechten« vorwirft: Herabwürdigung der politischen Gegner (»Rhetoriker des Verfolgungswahns«) und Verdrehung der Wirklichkeit (die Bundesrepublik öffne sich angeblich bei permanenter Verschärfung der Asylgesetze). Maas behauptet, es mache keinen Sinn, auf sich als Deutscher »stolz zu sein«. Und doch schreibt und fühlt er permanent als generalisierter Deutschland-Vertreter. Er sieht die rechte Bewegung als »Schande für Deutschland«. Das kann nur einer sagen, der sein Land idealisiert und den Nationalismus unter dem Deckmantel des guten Patrioten versteckt. So ist es kein Wunder, dass Maas’ Aufforderung an die Leser und Leserinnen zu mehr konstruktivem Streit und Diskussion lautet: »Wir müssen reden, Deutschland!«
Auch wenn Maas behauptet, er sei »kein Freund von Sonnenscheinrhetorik«, so fragt er sich, »warum in Deutschland so wenig Optimismus herrsche«, in einer »Gesellschaft, die Großartiges leistet«. Es gehe darum, wieder »für etwas, nicht nur gegen etwas« zu sein, denn so wie es ist, ist es gut. Die deutsche Gesellschaft habe »so viel Gutes in sich, so viel Achtung der Menschen füreinander, so viel Freude am Miteinander. Sie bringt so viele Ideen und Impulse hervor, so viele Mittel gegen den Hass«, liest man. Und weil Deutschland ein gutes Land ist, darf es sich von den Rechten - wer immer das sei - und auch von den linken Nörglern nicht schlechtreden lassen.
An seinem Nachwuchs merke er, dass junge Deutschen bereit seien für Demokratie und eine positive Zukunft: »Wenn ich sehe, wie mein Sohn am Wochenende mit mir dem HSV den Daumen drückt, aber am Mittwoch sein Real-Madrid-Trikot überstreift, spüre ich: Für die Jungen ist Europa längst gelebte Selbstverständlichkeit.« Was daran europäisch sein soll, dass zwei Fußballfans verschiedenen Alters für Vereine fiebern, in denen vornehmlich Millionäre spielen, die Millionen von Menschen unter anderem die »soziale Frage« vergessen machen sollen, bleibt sein Geheimnis.
Es geht Maas vornehmlich um die Streitkultur, die er in Deutschland im Niedergang begriffen sieht. Schuld daran seien die Rechtspopulisten, weil sie sich an Nebensächlichkeiten abarbeiteten, unehrlich seien und eine »Katastrophen-Rhetorik« an den Tag legten. Talkshows bezeichnet er aber als »Institutionen der demokratischen Streitkultur« bezeichnet. Sein Verständnis von Demokratie und Parlamentarismus ist einzig auf die diskursive Ebene festgelegt. Er kann die Institutionen einer bürgerlich verfassten Demokratie weder historisch noch funktional in ihrer Gewordenheit begreifen: »Deshalb haben wir den Parlamentarismus: damit diejenigen, die vom Volk beauftragt sind zu regieren, sich der Debatte nicht entziehen können.«
Am Ende eines jeden Kapitels empfiehlt Maas, »was wir tun können«: Wir sollen reden, uns zu Wort melden, etwas klar sagen, Haltung zeigen, die Streitkultur nicht einschlafen lassen und Fragen stellen. Konkrete Vorschläge für politische Veränderungen sucht man in diesem Buch vergebens.
»Nicht wegducken« heißt für mich: die Gefahr, die von smarten und alerten Politikern der Anpassung an eine ungerechte Gesellschaft - wie etwa Heiko Maas - ausgeht, nicht zu unterschätzen: Diskutieren ist gut. Rote Hilfe ist besser!
Heiko Maas: Aufstehen statt Wegducken. Eine Strategie gegen Rechts. Piper, 252 S., geb., 20 €. Unser Rezensent lehr Sozialwissenschaften an der Hochschule München und ist Gastprofessor an der Universität Innsbruck.
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