Die kastrierte Identität

Alexander Gaulands »Kyffhäuser«-Rede

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 6 Min.

Bundesaußenminister Sigmar Gabriel war nach der letzten Sitzungswoche dieser Legislaturperiode im Bundestag »wehmütig und traurig«, wie er dem »Handelsblatt« vor einer Woche anvertraute. Aber nicht, weil die Legislaturperiode zu Ende war, sondern weil er Angst vor dem hat, was kommen wird, denn es gebe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass im neuen Bundestag »zum ersten Mal nach 1945 im Reichstag am Rednerpult echte Nazis stehen«.

Die Nazis, vor denen der SPD-Politiker warnt, nennen sich Alternative für Deutschland (AfD). Und Gabriel ist beileibe nicht allein mit seinem Alarmismus. Der Nazi-Vorwurf bzw. -Vergleich gehört mittlerweile zum guten Ton einer jeden Rede gegen die Rechtsnationalisten. Beispielhaft dafür sind die Reaktionen auf die Rede des AfD-Politikers Alexander Gauland, die dieser Anfang September beim Kyffhäuser-Treffen des nationalkonservativen Flügels seiner Partei gehalten hatte. Gaulands Rede wurde auf die Aussage reduziert, man könne wieder stolz sein »auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen«. Von dem Vorwurf, Gauland werde »immer ekelhafter« (Volker Beck, Grüne) über »geschmacklose Geschichtsklitterung« (Thomas Oppermann, Fraktionschef der SPD im Bundestag) bis hin zur Nazi-Keule (»Wer fordert, wir sollten ›stolz‹ sein auf die Verbrechen deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg, der muss sich vorwerfen lassen, ein Rechtsextremer zu sein«, Justizminister Heiko Maas, SPD) schlug Gauland Empörung entgegen.

Vor allem die Aussage von Heiko Maas ist besorgniserregend fahrlässig und dumm. An keiner Stelle seiner Rede spricht Gauland davon, dass man stolz auf die Verbrechen deutscher Wehrmachtssoldaten sein sollte - auch wenn er möglicherweise billigend in Kauf nimmt, dass ein Teil seiner Anhängerschaft das so interpretiert. Gauland fasste vielmehr in knapp 18 Minuten programmatisch das zusammen, was die neue Rechte und die hiesigen Nationalkonservativen seit gut 30 Jahren betreiben: die Bereinigung der deutschen Geschichte um die zwölf Jahre der Nazi-Zeit. Diese Vergangenheit, die Gauland in seiner Rede als »falsche Vergangenheit« bezeichnet, um das Verbrechen, den industriell betriebenen Massenmord an den Juden, Sinti und Roma sowie die Versklavung der slawischen Völker nicht beim Namen nennen zu müssen, soll aus dem kollektiven Gedächtnis zwar nicht verschwinden, aber eben nicht mehr als Erinnerungskultur auferlegt werden. Man müsse »uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten; sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr!«, so Gauland wörtlich.

Und weil dieser kastrierten Identität die Erinnerung im Wege steht und sein Publikum erwartet, dass im Hause des Henkers nicht vom Strick geredet wird (»sonst hat man Ressentiment«, Theodor W. Adorno, 1964), spricht Gauland deshalb an keiner Stelle aus, worin die »falsche Vergangenheit« besteht: das Dritte Reich, der Holocaust, Himmler, Goebbels, Eichmann, Auschwitz und die Gaskammern. Dafür nennt er Stauffenberg und Rommel, Schlachtplätze des deutsch-französischen Kriegs 1870/71 und des Ersten Weltkriegs (Mars-la-Tour, Sedan, Cambrai, Verdun) sowie Bach, Heine, Goethe, Schiller, Kleist und Schubert als Bezugspunkte deutscher Geschichte.

Es ist kein Zufall, dass Gauland auf dem Kyffhäuser, jenem für Nationalkonservative mystisch aufgeladenen geschichtlichen Ort, den Bogen von der Stauferzeit über Goethe bis zu Bismarck spannte - und bei diesem endete. An diesem Ort, an dem verschiedenen Sagen nach entweder einer der beiden Staufer-Kaiser Friedrich I. und Friedrich II. oder der Franken-Kaiser Karl der Große schlummert, um irgendwann wieder aus dem Berg zu fahren und mit seinen Getreuen Deutschland zu retten und zu neuer Herrlichkeit zu führen, teilt Gauland in einer Art vorgezogener Antrittsrede für den Deutschen Bundestag mit, dass deutsche Geschichte mit dem 19. Jahrhundert endete - und erst wieder mit der Wiedervereinigung begann. Das Kyffhäuser-Denkmal mahne nicht an »Deutschland, Deutschland über alles«, sondern an »Deutschland, einig Vaterland« und an den »klugen Staatsmann Bismarck«. Der wollte, so Gauland, Deutschland »nie allein, sondern im Verbund mit anderen starken Nationen sehen: mit Russland, mit England, ja sogar mit Frankreich« (und heute natürlich mit Amerika, wie Gauland hinzufügt).

Wie sehr der 76-Jährige im 19. Jahrhundert verhaftet ist, zeigt noch eine andere Passage in seiner Rede, in der er Heinrich Heine (1797 - 1856) zitiert: »Franzosen und Russen gehört das Land,/ Das Meer gehört den Briten,/ Wir aber besitzen im Luftreich des Traums/ Die Herrschaft unbestritten.« Heine, so Gauland, habe damit (»nicht ganz zu Unrecht«) die damalige Gegenwart ironisiert. Er habe aber nicht erkannt, »dass diese Gegenwart der Beginn einer großen Zukunft war«. Ohne die Goethe-Zeit sei die Bismarck-Zeit nicht denkbar gewesen. Mit Goethe sei »die Dominanz deutscher Kultur und Sprache in Europa« eingeleitet worden. Ironischerweise, so muss man Gauland entgegnen, ist das genau die Zukunft, vor der der Dichter Heine in »Deutschland. Ein Wintermärchen« warnte: ein Europa, dass deutsch dominiert ist, dessen Identität sich der deutschen unterzuordnen hat, oder, um mit dem großen deutsch-jüdischen Dichter zu sprechen: »Doch dieser deutsche Zukunftsduft/ Mocht alles überragen,/ Was meine Nase je geahnt -/ Ich konnt es nicht länger ertragen«. Auf das 19. Jahrhundert, in dem die deutsche Sprache die Lingua franca in der Wissenschaft wurde, folgte das 20. Jahrhundert, das »deutsche Jahrhundert« mit Nationalsozialismus, Militarismus, Krieg und Auschwitz.

Bevor der AfD-Politiker und einstige CDU-Konservative in seiner Rede für die Deutschen das Recht einfordert, »uns unsere Vergangenheit zurückzuholen« (schließlich habe man sich »mit den Verbrechen der zwölf Jahre auseinandergesetzt«), und den inkriminierten Satz sagt: »Wenn die Franzosen zu Recht stolz auf ihren Kaiser sind und die Briten auf Nelson und Churchill, haben wir das Recht, stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen«, stellt er unmissverständlich fest: »Wer Geschichte säubert, zerstört unsere Identität.«

Genau eine solche Säuberung aber betreibt Gauland. Wer, wie Gauland, meint, dass die zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945 heute unsere Identität nicht mehr betreffen, will sich nicht mehr erinnern, säubert die Geschichte und zerstört unsere Identität.

Mit der Nazi-Keule und dem Wiederkäuen des Faschismusvorwurfs wird man die AfD im Bundestag nicht stellen können. In der Auseinandersetzung mit geschickten Rhetorikern wie Alexander Gauland ist ein gewisser intellektueller Aufwand notwendig. Wenn die Reaktionen auf die Aussagen Gaulands in seiner »Kyffhäuser«-Rede sich allerdings darin erschöpfen, ihm vorzuwerfen, er wolle Nazi-Verbrechen verharmlosen, oder in der falschen Schlussfolgerung bestehen, Gauland wolle »die Taten der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg neu bewerten lassen« (Zeit-Online), dann ist es nicht gut bestellt um das liberale und linke Milieu.

Und ein Zweites ist wichtig: In seinem Verdikt, man dürfe »uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten«, weil das deutsche Volk wie kein anderes mit »einer falschen Vergangenheit aufgeräumt« habe, verkennt Gauland, verkennen die Nationalkonservativen, dass es kein Recht für uns Deutsche geben kann, Vergessen einzufordern; dies kann allenfalls eine Gnade sein, die von den Opfern und ihren Nachfahren gewährt wird.

Ein Großteil von Gaulands Rede besteht in einer Auseinandersetzung mit der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, der SPD-Politikerin Aydan Özuğuz. Ihr wirft er ihre Bemerkung vor, eine spezifische deutsche Kultur sei jenseits der Sprache »schlicht nicht identifizierbar«. Nun hat Aydan Özuğuz sicherlich recht, wenn sie diese Feststellung auf das Hier und Jetzt und auf die Zukunft bezieht, auf eine Zeit der Globalisierung, der sozialen Netzwerke im Internet, die die kulturelle Indifferenz fördern, in der selbst die Sprache kein nationales Merkmal mehr ist. Bezogen auf die Vergangenheit liegt sie aber falsch. Gauland war es daher ein Leichtes, Özuğuz in seiner »Kyffhäuser«-Rede vorzuwerfen, die »türkischstämmige Deutsche« stehe offensichtlich »geistig vor einem Nichts«. Wie wolle sie »Menschen, die in unser Land kommen, integrieren, wenn das ein Nichts für sie ist? Man kann niemanden in ein Nichts integrieren!« So schwer es fällt, muss man Gauland in diesem letzten Satz recht geben.

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