Das Experiment

Schwarz-Gelb-Grün und AfD: Nach der Bundestagswahl steht die deutsche Politik vor einem tiefgreifenden Umbruch

Sieben Parteien, (noch) sechs Fraktionen, ein neues Element, so viele Abgeordnete wie noch nie, Ergebnisse, die es so noch nicht gab in der Geschichte des Bundestages. Der Wählerwille hat etwas ausgelöst, eine Reihe von Reaktionen in Gang gesetzt, die bundesdeutsche Legislative in ein Labor verwandelt und alle in diesem Land zum Teil eines Experiments gemacht. Ausgang völlig offen.

Lustigerweise haben die, die in panischer Angst vor Veränderung ihr Kreuz bei der AfD gemacht haben, dafür gesorgt, dass Neues, Unbekanntes, Unerprobtes die bundesrepublikanischen Nachkriegs- und Postwendegewissheiten ablösen wird.

Jamaika zum Beispiel. Auf Landesebene schon einmal gescheitert und in Schleswig-Holstein praktisch noch in der Testphase, sind es nun Schwarz, Gelb und Grün, die eine stabile Verbindung eingehen sollen. Mischung, Wirkung, Haltbarkeit? Müssen getestet werden.

Ebenso wie die neue Zusammensetzung der Sozialdemokratie. Ranzig war die geworden in der Großen Koalition und bitter im Geschmack durch die Agenda 2010. Im besten Fall haben die Genossen nun vier Jahre Zeit (je nach Jamaika-Haltbarkeit), als Oppositionsführer an einer neuen verbesserten - auf jeden Fall mit was Linksdrehendem drin - Rezeptur zu arbeiten. Die man beim nächsten Urnengang auch anbieten kann, ohne Brechreiz hervorzurufen - bei Wählern und möglichen Verbündeten. Wie der Linkspartei. Ja, diese vier Jahre müssen die Genossen nutzen - und zwar aus beiden Parteien -, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass nach Schwarz-Gelb-Grün zumindest die Möglichkeit besteht, in absehbarer Zeit auch einmal mit ganz viel Rot zu experimentieren.

Erneuerung, diesen Wunsch sollten CDU/CSU, Grüne, LINKE und die SPD aus dem Wahlergebnis herauslesen. Eine Sehnsucht nach klaren und unterscheidbaren Positionen, nach Alternativen und Authentischem. Wähler wollen Originale und keine Trittbrettfahrer. Abschreckendes Beispiel: Horst Seehofer. Im Wettkampf mit der AfD darum, wer denn nun den rechtsäußerst besorgten Bürger am besten bedient, hat der ein für ihn desaströses, fast den eigenen Kopf kostendes Ergebnis eingefahren. Deshalb für alle, die es noch nicht begriffen haben, ein Warnhinweis: Das Hinzufügen von Teilen des neuen Elements AfD führt ausschließlich zur Braunfärbung und zeitigt keine Wahlerfolge! Ich wiederhole: Keine Wahlerfolge!

Die blieben dieses mal zwei Parteien vorbehalten. Der FDP, die damit gezeigt hat, dass vier Jahre dafür genutzt werden können, eine Partei aus dem Leichenschauhaus zurück an den Kabinettstisch zu führen. Und der AfD.

Schockierend, besorgniserregend, angsteinflößend soll deren Einzug sein, hört man von vielen Seiten. Sie selbst will Jagd machen auf die anderen Parteien im Allgemeinen und Kanzlerin Merkel im Speziellen. Und hat dabei doch wieder nur mit sich selbst zu tun. Frauke Petrys Abgang schon am ersten Tag nach der Wahl, ein kleiner Vorgeschmack wohl nur auf das, was folgen wird: Spaltungen, Chaos und wunderbare Ergebnisse in der Frage, was die Partei außer Gepöbel, Klamauk und NS-Rhetorik noch zu bieten hat. Man lehnt sich mit Sicherheit nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man hier zu dem Schluss kommt: nichts, was den anderen Parteien Angst machen müsste. Welche Bedeutung der AfD in diesem Bundestag zukommt, hängt am Ende davon ab, welche ihr zugestanden wird. Ob man sie tatsächlich als Jäger durchgehen lässt oder deutlich macht, dass da nur verwirrte Bewaffnete durch den Wald stolpern auf der Suche nach der Vergangenheit.

Jamaika, die AfD im Parlament, eine stagnierende Linkspartei - für Linke ist das Wahlergebnis wahrlich keine Offenbarung. Doch nach Jahren des Stillstands sollte die Chance ergriffen werden, die in Bewegung geratene Gesellschaft mit all den guten Bestandteilen emanzipatorischer Verbindungen von einer zukunftszugewandten Politik zu überzeugen. Authentisch, sozial, solidarisch. Damit am Ende des Experiments nicht nur braune Soße übrig bleibt.

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