• Kultur
  • Staatsschauspiel Dresden

Makarenko und Torgau

»Der Weg ins Leben« am Staatsschauspiel Dresden, Regie: Volker Lösch

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Sag zum gewöhnlichen Boden unter den Füßen: Erdreich - und schon stehst du ganz anders da. Erklär den Weg ins Leben zur Hauptstraße der Weltgeschichte - und schon hält die Sackgasse ihren wahren Zustand für eine Verleumdung. Und der sogenannte neue Mensch? Ideologie. Die schwächt zwar den Verstand, stärkt aber den Willen. Den Willen, den Menschen zu befreien, und sei es um den Preis, ihn zu brechen. Das ist Thema der jüngsten Inszenierung von Volker Lösch am Staatsschauspiel Dresden.

»Der Weg ins Leben« heißt der Abend von Lösch und Jörg Bochow (Bühne: Cary Gayler) - nach Texten von Anton Makarenko, mit collagierten Dokumenten und Zeitzeugenprotokollen. In einer schmutzigen, räudigen Menge Jugend steht tastend, testend ein ebenfalls verschmutzter Erwachsener. Lehrer Anton Makarenko. Das Projekt eines sozialutopischen Kinderheims im jungen, kriegsblutenden Russland der Revolutionäre - Erziehung durch Arbeit, Bildung, Gemeinschaft - verwandelt »seine« Schützlinge bald in strahlend weiß Uniformierte und ihn selbst in eine Autorität mit schwerem Ledermantel.

Viktor Tremmel gibt diesen Makarenko mit großen glühenden Augen, ein Idealist der praktischen Zugriffe. Das Leben im Heim: Bilder, wie der Seelenstahl gehärtet wird. Kindheiten mit viel Zigarettenrauch. Und Lachen. Selbstverwaltung zwischen Solidarität und Strafhärte. Eine Spaten-Choreographie als Vorwegnahme des Marschs an Kriegsfronten.

Regisseur Lösch in seinem Element der peitschenden Chöre und preschenden Arrangements. Er wird nie ein Psychologe sein. Es gibt genügend. Er wuchtet und kantet, aber mit Bedacht. Er ist ein fein arbeitender Grobmechaniker, er schraubt und hämmert, bis eine gesellschaftliche Motorik ihr Knirschen offenbart. Ein zeigetheatralischer Bilderbogen jagt zur Musik von FM Einheit durch sozialistische Geschichte: die Frühzeit der Bolschewiki; die kommunistische Erziehung in der DDR; die kulturpolitischen Fallbeile des 11. ZK-Plenums 1965; die militante Disziplinierungsmaschine der Jugendwerkhöfe. Die Lamellen der Bühne erinnern an Zellengitter - schließen sie sich zur Wand, so wird die Szene zum offenen Platz. Festplatz, Exerzierplatz. Die Inszenierung verbindet schmissiges Massentheater, Schauspieler-Bilder der frontalen Ansprache und aufwühlende Erzählpassagen.

Dies nämlich steigert sich zum bedrängenden Kern der Aufführung: Fünf einstige Insassen des Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau erzählen ihr Schicksal. Ilona Enskat, Anette Gebel-Kozian, Stefan Lauter, Andreas Richter, Detlev Sadrinna. Sie erzählen bewusst gemäßigt, sachlich - als solle der Schauder einer Distanz versucht werden, die es aber nicht wirklich geben kann. Denn da schuf ein Staat unglückliche Menschen, sperrte sie ins Gesellschaftsverhängnis. Wir erfahren mürbende Odysseen durch Heime (»Ich hatte eine schweinische Sehnsucht nach einer richtigen Schule«), und in Torgau regiert die brutale Praxis der Erzieher. Ein Chor trägt die »Belehrung über die Anwendung von Schlagstöcken« von 1964 vor: » .... dabei ist der Schlag nur in die Weichteile des Gegners zu schlagen.« Das empfindlichste Weichteil ist die Seele. Die Folgen von Torgau: Angst vor geschlossenen Türen, kleinen Räumen, gedämpftem Licht; ein stolperndes Sozialleben zwischen Fließband und Arbeitsamt; Vergessenwollen und Nichtvergessenkönnen. Einer der Zeitzeugen konnte lange nur in dritter Person von sich erzählen, »anders hätte ich das nicht ertragen«.

Es muss ein schreiendes Bedürfnis nach Gespräch und Gehör sein, das den Opfern diesen Mut zur Öffentlichkeit gab. Denn es ist erschütternd, was sie so böse ins Leben stieß und was sie nun von sich preisgeben: Keine Liebe, keine Herzensbildung, zerrüttete Familien, psychische Probleme (»Ich war nie ein Normalkind«). Vom seelenlosen Offiziersvater bis zur sexsüchtigen Mutter, vom Schulschwänzen bis zur brutalen Unbeherrschtheit (»Wenn schon Liebe, dann konnte ich die nur immer umsetzen in Gewalt«), die Verwahrlosung schließlich als Not, aber auch einzige Freiheit - so viele unglückliche Faktoren, die eine staatliche Fürsorge zwingend wie wünschenswert machten. Und dann: der vermeintliche Weg ins Leben als fortwährende Strafexpedition.

Da sitzen diese »Torgauer«, schauen ins Publikum, als wollten sie sagen: Träume sind schöner als ein Trauma. Denn Träume verbinden, ein Trauma aber bindet Atemzüge zu und macht einsam. Diese Zeugen wirken, als wollten sie einen Besitz nicht hergeben, die Angst. Als einer der zehn Schauspieler, die von Rolle zu Rolle springen, die pathetisch hohle Rechtfertigungsrede eines damaligen Lehrers von Torgau präsentiert, verlassen die Zeitzeugen im Stolz des Angewidertseins die Bühne. Einer von ihnen wird später sagen: »Als der Direktor von Torgau unmittelbar nach dem Mauerfall starb, habe ich eine Flasche Piccolo aufgemacht.« Tief sitzende Unversöhnlichkeit.

Oft lesen die Fünf ihre Texte, und um sie herum: szenische Illustration. Die befohlene Entblößung, die Notdurft in Eimer-Reihe, der Stoß von Treppenstufen, der verschärfte Arrest etwa nach »Selbstverstümmelung«. Ein Kartoffelregen prasselt vom Schnürboden herab: harte Arbeit und »ungenießbares Essen«. Dazu des Torgau-Direktors verblasenes Theoretisieren, was angestrebt sei: »durch eine explosive Veränderung der bisher negativen Einstellung der Jugendlichen eine Umerziehung«. Explosion? Auch sie wird Szene: Wucht der Hiebe mit dem schweren Schlüsselbund, Vehemenz des Brüllens.

Wieder ist nach dieser Aufführung an die skandalöse, schmerzende Gleichzeitigkeit zu denken: Aufschwung und Niederriss, menschlicher Ansatz und inhumane Verhärtung. Da war Makarenkos lebensrettende, von Idealen der Aufklärung beseelte Arbeit für Kinder und Jugendliche; da war der revolutionäre Plan, im kleinen Ich bleibende Lockreize fürs große Wir zu wecken. Aber da obsiegte der große Irrtum, der alles zerstörte: zu glauben, die Freiheit des Menschen erfülle sich in dessen rücksichtsloser Vergesellschaftung.

Aus Makarenkos Zöglingen waren beim rasanten Beginn Pioniere mit blauem Halstuch geworden - der Rampenchor schmetterte wie aufgezogen Ulbrichts Gebote der sozialistischen Moral: Du sollst, du sollst ... Dahinein das ehrliche Lockerungsgebot der FDJ: Beat und nicht nur immer Blauhemd. Gemäßigt wilder Tanz auf der Bühne, die Renft-Combo präsentiert ihre Kraft: »Zwischen Liebe und Zorn.« Aber aufmarschiert nun stocksteife Bürokratie: das kunstfeindliche Scharfrichtertum beim 11. ZK-Plenum der SED 1965.

Ulbricht, Honecker: hämische Zensur und der Scharfmacherton der geltenden Pädagogik. Auf der Leinwand eine Passage des damals verbotenen Films »Spur der Steine« - dem folgt auf der Szene die windungsflotte Selbstkritik eines Filmregisseurs; Daniel Séjourne steigert sie zum grotesken Körperballett aus Verkrampfung, Verbiegung und reuevoller Selbstvergatterung.

So etwas wie Torgau erscheint bei Lösch als schlimme Konsequenz einer Denkungsart, wie sie eben auch in jenem Plenum ihr Sinnbild erfuhr: Das Wechselbad zwischen lauer Öffnung und nächster kalter Verengung offenbarte die Furcht der Neumenschenbildner vor der Widersprüchlichkeit des lebendigen Menschen.

In den Schlussminuten umkurven bunt kostümierte Egozentriker das Bühnenrund. Nicht die neuen, aber sehr wohl neuzeitlichen Menschen. Tanz der austauschbaren Individualisten. Stressgeplagte, die sich täglich neu erfinden müssen, um den Härtegeboten der Moderne gerecht zu werden. Auftritt noch einmal des Schauspielers Viktor Tremmel, als Leiter der Salem-Eliteschule am Bodensee. Eine zynisch lässige Verabschiedung liberaler Pädagogik. Bildungskulturell gehe Chaos um. Schulterzucken: »Der lange Arm Hitlers hindert uns eben noch immer daran, Disziplin selbstverständlich einzufordern.« Klingt ein wenig, als sei Torgau der Name eines Virus. Der brachte Makarenko um, und Vorsicht: Der könnte womöglich Hunger auf jede Zukunft haben.

Wer im Publikum mag diesen Abend als Bestätigung einer eigenen bitteren DDR-Sicht empfinden? Wer dagegen, obwohl er im gleichen Land lebte, begegnet hier Erzählungen aus einer anderen Welt? Wer sagt grundsätzlich: das System? Und wer ruft einschränkend: Einzelfälle! Denn: Praktiken wie in Torgau seien ja wohl keine Erfindung der Kommunisten. Gewiss nicht. Aber nehmen wir an dieser Stelle eine Anleihe beim gern beschworenen Bertolt Brecht: »Mögen andere von ihrer Schande sprechen, ich spreche von meiner.«

Nächste Vorstellungen: 7., 9. Oktober

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