Die Verfluchten

Michail Ossorgin: »Zeugen der Zeit«

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach der Wiederentdeckung des grandiosen Romans »Eine Straße in Moskau«, den Michail Ossorgin 1927/28 im Pariser Exil schrieb und der in bisher wenig bekannter Weise die »Innensicht« der Ereignisse während und nach der Oktoberrevolution ausleuchtet, nun zwei weitere Romane: Etwas später als »Die Straße in Moskau« verfasst, schildern »Zeuge der Geschichte« und »Buch vom Ende« die unvorstellbar chaotischen Verhältnisse im rückständigen zaristischen Russland seit dem ersten Revolutionsjahr 1905 und deren Auswirkungen bis über das Epochenjahr 1917 hinaus.

Michail Ossorgin, der hier eine Art distanziertes und sich distanzierendes Zeugnis ablegt (er selbst gehörte in jungen Jahren zu den Sozialrevolutionären), schreibt eine Geschichtschronik. Alle wichtigen Gestalten haben reale Vorbilder, die Ereignisse haben tatsächlich stattgefunden. Er hat alles in eine ungeheuer spannende Romanform gegossen. Bis zuletzt glimmt ein kleines Flämmchen der Hoffnung für einige der wichtigen und sympathischen Akteure, aber der zweite Buchtitel sagt es schon: Das Ende, der Tod, ist unausweichlich. Es gibt keine »Auferstehung«.

Zwei kontrastierende Lebensgeschichten prägen die Romane. Da ist zum einen die junge Natascha Kalymowa, ein unverbildetes, naturliebendes Mädchen. Sie wächst im Dorf Fjodorowka in einem Landgut als Tochter eines Arztes auf. Während ihres Studiums in Moskau zu Beginn des Jahrhunderts gerät sie in eine Gruppe radikaler Sozialrevolutionäre. Sie nennen sich Maximalisten, wollen die bedrückenden Verhältnisse in Russland mit Gewalt verändern und sind überzeugt, dazu berufen zu sein. Manche halten sie für Heilige, andere für Verbrecher. Leitfigur der Gruppe ist Olen (»Hirsch«). Ihm folgt Natascha schon bald besinnungslos. 1905 kommt es in Moskau zu Barrikadenkämpfen, die blutig niedergeschlagen werden. Die junge Frau ist daran mit Sprengstofftransporten beteiligt. Gemeinsam mit Olen organisiert sie den aufsehenerregenden Bombenanschlag auf das Haus des Ministerpräsidenten in Petersburg. Es gibt zahlreiche Opfer, und Natascha hat zwei gläubig-naive junge Männer (fast Dostojewski-Gestalten) dafür bewusst in den Tod geschickt. Olen und Natascha werden verhaftet. Er wird gleich gehenkt, sie auf Grund eines Bittgesuchs ihres Vaters zu lebenslanger Haft verurteilt. Drei Jahre später gelingt ihr zusammen mit elf weiteren Frauen die Flucht aus dem Moskauer Frauengefängnis, ein wiederum spektakuläres Ereignis. Über Sibirien, die Wüste Gobi, China und die Weltmeere gelangt sie bis nach Paris. Später lebt sie eine Weile in Italien in idyllischer Umgebung.

Ist Nataschas Flucht rund um den Erdball tatsächlich ein Läuterungsweg, wie Ursula Keller im Nachwort schreibt? Ich würde das bezweifeln. Ein bürgerliches Leben mit Familie und Kindern gelingt nicht. Alles spätere Geschehen ist überschattet vom »Fluch der bösen Tat« und zugleich vom Sturm der Geschichte, der in ganz Europa die Trümmer häuft.

Als Opfer historischer Ereignisse gehen im »Buch vom Ende« auch alle anderen Gestalten des Romans zugrunde, die Schuldigen und die Unschuldigen, die Gebildeten und die Naiven, die Verstrickten und die Beobachter. Womit wir bei der interessanten und typisch russischen Gegenfigur zu Natascha sind, dem Popen Vater Jakow, dem »Ewigen Pilger«, der rastlos durch die Weiten des großen Russland wandert und dabei sein Ohr nicht nur an den Ereignissen der Geschichte hat, sondern auch von Zeit zu Zeit Natascha an verschiedenen Orten begegnet. Als »Zeuge der Geschichte« hält er die Ereignisse in linierten Notizheften fest. Auch diese unheilige, heilige Wandergestalt mit den kaputten Bastschuhen stirbt am Ende. Aber wenigstens entgeht er seinen Häschern.

Die Protagonisten dieser Romane gehen zu Grunde, sie sind Gottlose in gottloser Zeit (schon zu Beginn liest Natascha Nietzsche). Auch der Pope ist längst aus dem Dienst entlassen. Die Terroristen sind Täter und Opfer, Verführer und Verführte, Getriebene und Betrogene, letztendlich Verfluchte. Und doch bleibt für den russischen Autor im 20. Jahrhundert die Frage nach Schuld und Sühne bestehen - nicht die nach Verbrechen und Strafe, wie Dostojewskis Roman in der Übersetzung von Swetlana Geier von 1994 heißt.

Ist das Hoffnung oder Verzweiflung? Jeder wird es anders beantworten. Ein Wort sollte zur Ausgabe noch gesagt werden. Die beiden Herausgeberinnen haben, vor allem mit den historischen Hintergrundinformationen, Großartiges geleistet.

Michail Ossorgin: Zeugen der Zeit: Zeuge der Geschichte und Buch vom Ende. Zwei Romane. Aus dem Russischen mit Anmerkungen und einem Nachwort von Ursula Keller unter Mitarbeit von Natalja Sharandak. Die Andere Bibliothek, 551 S., Leinen im Schuber, 42 €.

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