Zu groß fürs kleine Land?

Karl Nendel war der General der Mikroelektronik der DDR

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 4 Min.

Er verfügt über eine Biografie, wie man sie zu DDR-Zeiten gern vorzeigte: Geboren 1937 in einer Arbeiterfamilie, erlernte Karl Nendel von 1947 bis 1950 den Beruf eines Elektrikers. Ein Studium an der Fachschule schloss er 1955 als Elektroingenieur ab. Nach einigen Jahren Arbeit in seinem Beruf bei der Erschließung von Braunkohletagebauen in der Umgebung von Leipzig nahm er 1961 eine Tätigkeit als Mitarbeiter bei der Abteilung Kohle der Staatlichen Plankommission auf. In Berlin machte er in den folgen Jahren im Staatsapparat Karriere: ab 1963 Leiter der Abteilung Elektronische Industrie im Volkswirtschaftsrat bzw. im Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik, ab 1967 Staatssekretär. 1977 bis November 1989 war er Regierungsbeauftragter für die Entwicklung der Mikroelektronik und Mitglied der Berliner SED-Bezirksleitung. Doch wie ging es danach weiter?

Nendel arbeitete weiterhin in Leitungsfunktionen der elektronischen Industrie in Ostdeutschlands - nunmehr auf Betriebsebene. Zögernd ging der Geschäftsführer des mittelständischen Unternehmens Elton Electronic 2001 in den Ruhestand. Er hat DDR-Geschichte durchlebt - als Mitmacher und Mitgestalter. In einem in der Wirtschaftsliteratur über die DDR wohl umstrittensten Industriezweig. Für viele Autoren symbolisiert dieser die Unfähigkeit der ostdeutschen Planwirtschaft, mit den westlichen Marktwirtschaften mitzuhalten. Für andere kommt das Voranschreiten der DDR-Mikroelektronik trotz US-amerikanischen High-Tech Embargos und sowjetischer Kooperationsverweigerung dagegen einem Wunder gleich. Nendel trägt mit seinem Buch wesentlich zur Klärung offener Fragen bzw. umstrittener Bewertungen bei.

Der Autor berichtet von den Bemühungen des 1971 geschaffenen Sektors »Wissenschaft und Technik« des Staatssicherheitsdienstes (insbesondere der Abteilung XIV der HVA), trotz Embargos Unterlagen für den Nachbau von Schaltkreisen und Speicherchips zu beschaffen, und von den Auseinandersetzungen innerhalb der SED-Führung um die Frage, ob sich die - verglichen mit den Giganten USA, UdSSR, Japan und BRD - kleine DDR-Wirtschaft eine mikroelektronischen Industrie überhaupt leisten könne, ohne das Land zu überfordern. Nendel reflektiert Debatten zwischen Günter Mittag, Wirtschaftssekretär des Politbüros des ZK der SED und stärkster Befürworter des Mikroelektronikprogramm, sowie Gerhard Schürer, dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, der immer wieder davon abriet, die in anderen Industriezweigen zu deren Modernisierung dringend benötigten Investitionen umzuleiten. Der Autor verschweigt auch nicht, wie sich ehrgeizige Kombinatsdirektoren um die Standorte Dresden, Erfurt und Jena stritten. Es siegte schließlich Wolfgang Biermann von Carl Zeiss Jena, dem es gelungen war, Honecker auf seine Seite zu ziehen.

Über all das berichtet Nendel kurz und klar und ohne Scheu. Dieser Stil, zu dem sicher auch Ralf Pasch von Rohnstock Biografien beigetragen hat, der Nendels Bericht aufschrieb, wird im ganzen Buch durchgehalten, auch wenn er über sich selbst berichtet: Wie er von seinem Vater gehindert wurde, als Pimpf mit dem Gewehr in seinem Heimatort Magdeborn, Nazideutschland zu verteidigen, wie es für ihn in der Regel keine Widerrede gab, wenn seine Vorgesetzten ihm Aufträge erteilten und kurze Fristen setzten, aber auch, wie er trotz Parteistrafen sich weigerte, jede Anweisung zu erfüllen und warum er bis in den Herbst 1989 hinein ganz selbstverständlich an die sozialistische Zukunft der DDR glaubte.

Freimütig bekennt Nendel, der unter den DDR-Wirtschaftsfunktionären den Ruf eines Machers hatte, dass er die ihm Untergebenen im Interesse des Vorankommens beim Aufbau der Mikroelektronik oft arg strapazierte. Kein Wunder also, dass man den »General der Mikroelektronik« auch als »Revolver-Karl« beschimpfte. Auch manch kritische Selbsteinschätzung enthält die Autobiografie. Wie Nendel gegenwärtig zur DDR und seiner eng mit ihrem Schicksal verflochtenen Lebensleistung steht, erfährt der Leser gleich auf der ersten Buchseite. »Wer behauptet, die Rückständigkeit der DDR sei Folge von Zentralisierung und Misswirtschaft gewesen, blendet aus, dass die kleine DDR in Form umfangreicher Reparationsleistungen ihren großen Bruder Sowjetunion mit durchfüttern musste, während Westdeutschland - spätestens mit dem Marshallplan von Uncle Sam - mit dem Silberlöffel hochgepäppelt wurde.«

Diese und andere Einschätzungen Nendels bieten sicherlich Diskussionsstoff, zumal sie der Mehrzahl der publizierten Urteile über die Wirtschaftsleistung der DDR widersprechen. Nendels Meinungen beruhen aber stets auf seinen Lebenserfahrungen, an denen er den Leser teilnehmen lässt. Einschätzungen anderer über Ereignisse und Zustände in der DDR ignoriert er durchaus nicht. Für eine Autobiografie vielleicht ungewöhnlich, blendet er wiederholt deutlich gekennzeichnete Kommentare von Leitungskollegen bzw, Wissenschaftlern ein, die sich zu Situationen und Ereignissen aus ihrer Sicht und anders äußerten.

Nendels Buch, das sich fast durchgängig wie ein spannender Roman liest, ist allen zu empfehlen, die sich eine eigenen Meinung über die DDR, ihre Fehler und ihre Vorzüge, bilden wollen.

Karl Nendel: General der Mikroelektronik. Autobiographie. Edition Berolina, 238 S., geb., 19,99 €.

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