Erst die Gewehrkugeln, dann die Schultafeln

Die physische Unterwerfung afrikanischer Staaten ist beendet, aber die geistige durch Sprache geht weiter

  • Ngũgĩ wa Thiong’o
  • Lesedauer: 9 Min.
1962 wurde ich zu jenem historischen Treffen afrikanischer Schriftsteller am Makerere University College in Kampala in Uganda eingeladen. Auf der Teilnehmerliste standen die meisten der Namen, die seither in der ganzen Welt Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen geworden sind. Der Titel: »Eine Konferenz afrikanischer Schriftsteller englischer Sprache«.

Ich studierte damals am Makerere, einem Übersee-College der University of London, Englische Sprache und Literatur. Die sichere Aussicht, Chinua Achebe zu treffen, war für mich die Hauptattraktion. Ich trug das unfertige Schreibmaschinenskript des Romans »Weep Not Child« bei mir und wünschte mir, dass er es liest. 1961, im Jahr davor, hatte ich »The River Between« abgeschlossen, meinen ersten Versuch eines Romans, und ihn bei einem Schreibwettbewerb eingereicht. Ich trat in die Fußstapfen von Peter Abrahams mit seinen Romanen und autobiografischen Werken von »The Path of Thunder« (1948) bis »Tell Freedom« (1954), dem Chinua Achebe 1958 mit der Veröffentlichung von »Things Fall Apart« folgte. Ihre Gegenstücke fanden sich in den französischen Kolonien mit der Generation von Sédar Senghor und David Diop, deren Texte in der Pariser Ausgabe der »Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache de langue francaise« aus dem Jahr 1947/48 enthalten waren. Sie schrieben alle in europäischen Sprachen und das war auch bei den Teilnehmern jener bedeutsamen Begegnung auf dem Makerere-Hügel in Kampala im Jahr 1962 der Fall.

Der Titel »Eine Konferenz afrikanischer Schriftsteller englischer Sprache« schloss automatisch all jene aus, die in afrikanischen Sprachen schrieben. Jetzt, da ich von den selbstzweiflerischen Höhen des Jahres 1986 zurückblicke, kann ich die darin enthaltene absurde Anomalie erkennen. Ich, ein Student, war auf der Grundlage von gerade einmal zwei veröffentlichten Kurzgeschichten für dieses Treffen qualifiziert: »The Fig Tree« (Mũgumo) in der Studentenzeitschrift »Penpoint« und »The Return« in der neuen Zeitschrift »Transition«. Doch weder Shabaan Robert, damals der größte lebende ostafrikanische Dichter, der mehrere dichterische und erzählerische Werke auf Kiswahili vorzuweisen hatte, noch Chief Fagunwa, der große nigerianische Schriftsteller mit mehreren auf Yoruba veröffentlichten Büchern, kamen dafür infrage.

Die Diskussionen über den Roman, die Kurzgeschichte, über Dichtung und Theater fußten auf Auszügen englischsprachiger Arbeiten und schlossen damit die großen Werke in Kiswahili, Zulu, Yoruba, Arabisch, Amharisch und anderen afrikanischen Sprachen aus. Dennoch: Die Präliminarien waren kaum vorüber, da widmete sich diese »Konferenz afrikanischer Schriftsteller englischer Sprache« trotz des Ausschlusses der Schriftsteller und der Literatur in afrikanischen Sprachen dem ersten Tagesordnungspunkt: »Was ist afrikanische Literatur?«

Eine lebhafte Debatte schloss sich an: Handelte es sich dabei um Literatur über Afrika oder über die afrikanische Erfahrung? War sie Literatur, die von Afrikanern geschrieben wurde? Wie stand es um einen Nicht-Afrikaner, der über Afrika schrieb: War sein Werk zur afrikanischen Literatur zu zählen? Was, wenn ein Afrikaner sein Werk in Grönland spielen ließ: Zählte es ebenfalls zur afrikanischen Literatur? Oder waren afrikanische Sprachen das Kriterium? Wenn ja, wie verhielt es sich mit dem Arabischen, war es nicht eine afrikafremde Sprache? Was war mit dem Englischen oder Französischen, die afrikanische Sprachen geworden waren? Was, wenn ein Europäer in einer afrikanischen Sprache über Afrika schrieb? Was ... wenn ... wie ... dies oder jenes, nur das eine Thema nicht: die Herrschaft der Sprachen des imperialistischen Europa über unsere Sprachen und Kulturen: Jedenfalls waren weder Fagunwa noch Shabaan Robert oder irgendein Schriftsteller vor Ort, der in einer afrikanischen Sprache schrieb, um die Konferenz aus den Bereichen ausweichender Abstraktion herauszuholen. Nicht ein einziges Mal wurde ernsthaft die Frage gestellt: War das, was wir schrieben, tatsächlich afrikanische Literatur? Auch der gesamte Bereich von Literatur und Lesepublikum - und damit der Sprache als Determinante sowohl des nationalen als auch des klassenbezogen ausgerichteten Lesepublikums - spielte keine wirkliche Rolle: Die Debatte drehte sich stärker um den Gegenstand und den rassischen Ursprung1 sowie um die geografische Verortung des Schriftstellers.

Das Englische, wie das Französische und Portugiesische auch, wurde als die natürliche Sprache für die literarische und sogar die politische Kommunikation zwischen afrikanischen Menschen derselben Nation und zwischen den Nationen in Afrika und auf anderen Kontinenten vorausgesetzt. In einigen Fällen betrachtete man die europäischen Sprachen sogar als dazu fähig, die afrikanischen Völker gegen die teilenden Tendenzen zu einen, die der Vielzahl afrikanischer Sprachen innerhalb eines Staatsgebildes eigen sind. Nur dadurch konnte Ezekiel Mphahlele später in einem Brief an die Zeitschrift »Transition« schreiben, dass Englisch und Französisch die Sprachen der Allgemeinheit geworden seien, mit denen man eine nationalistische Front gegen die weißen Unterdrücker bilden könne, und dass »diese beiden Sprachen selbst dort, wo sich der Weiße wie in den unabhängigen Staaten bereits zurückgezogen hat, immer noch eine einigende Kraft sind«. Im literarischen Bereich sah man sie häufig als Retter der afrikanischen Sprachen vor sich selbst. Im Vorwort, das er zu Birago Diops »Contes d’Amadou Koumba« verfasste, lobt Sédar Senghor Diop dafür, dass er das Französische genutzt habe, um den Geist und Stil der alten afrikanischen Märchen und Fabeln zu retten.

Englisch, Französisch und Portugiesisch waren zu unserer Rettung auf den Plan getreten und wir akzeptierten dieses unverlangte Geschenk voll Dankbarkeit. So sagte Chinua Achebe 1964 in einer Rede mit dem Titel »The African Writer and the English Language«: »Ist es richtig, dass ein Mensch seine Muttersprache für die eines anderen aufgeben soll? Das sieht wie schändlicher Verrat aus und ruft ein Schuldgefühl hervor. Doch gibt es für mich keine andere Wahl. Diese Sprache ist mir gegeben worden und ich beabsichtige, sie zu verwenden.«

Man beachte das Paradoxon: Die Möglichkeit der Verwendung von Muttersprachen ruft einen Tonfall der Leichtfertigkeit in Formulierungen wie »schändlicher Verrat« und »Schuldgefühl« hervor; die Verwendung von Fremdsprachen aber ruft eine kategorisch positive Reaktion hervor, die Achebe selbst zehn Jahre später als die »fatalistische Logik der unantastbaren Stellung des Englischen in unserer Literatur« beschreiben sollte.

Tatsache ist, dass wir alle, die wir uns für europäische Sprachen entschieden, diese fatalistische Logik mehr oder weniger akzeptierten. Wir wurden von ihr geleitet und die einzige Frage, die uns beschäftigte, war, wie wir die übernommenen Sprachen am besten dazu brachten, das Gewicht unserer afrikanischen Erfahrung zu tragen, indem wir ihnen zum Beispiel afrikanische Sprichwörter und andere Besonderheiten afrikanischer Sprechweise und Folklore »zum Fraß vorwarfen«. Was diese Aufgabe angeht, wurden Achebe (»Things Fall Apart«; »Arrow of God«), Amos Tutuola (»The Palm-Wine Drinkard«; »My Life in the Bush of Ghosts«) und Gabriel Okara (»The Voice«) häufig als drei alternative Modelle herangezogen. Wie weit wir in unserer Mission zu gehen bereit waren, Fremdsprachen anzureichern, indem wir ihren eingerosteten Gelenken Senghor‘sches »schwarzes Blut« injizierten, lässt sich am besten anhand eines Aufsatzes von Gabriel Okara veranschaulichen, der in der »Transition« nachgedruckt wurde:

»Als Schriftsteller, der an die größtmögliche Nutzung afrikanischer Ideen, afrikanischer Philosophie und afrikanischer Folklore und Bildsprache glaubt, vertrete ich die Auffassung, dass der einzige Weg, sie wirksam einzusetzen, darin besteht, sie nahezu wörtlich aus der Muttersprache des afrikanischen Schriftstellers in diejenige europäische Sprache zu übersetzen, die er als Ausdrucksmittel verwendet. Ich habe mich in meinen Werken bemüht, so nahe wie möglich am volkssprachlichen Ausdruck zu bleiben. Weil man aus einem Wort, einer Wortgruppe, einem Satz oder selbst einem Namen in jeder afrikanischen Sprache die gesellschaftlichen Normen, Haltungen und Werte eines Volkes herauslesen kann.

Um die lebendigen Bilder afrikanischer Rede einzufangen, musste ich auf meine Gewohnheit verzichten, meine Gedanken zunächst in Englisch auszudrücken. Das war anfangs schwierig, aber ich musste es erlernen. Ich musste jeden einzelnen Ijaw-Ausdruck untersuchen, den ich verwendete und die mögliche Situation herausfinden, in der er eingesetzt wurde, um die nächstliegende Bedeutung im Englischen herauszuarbeiten. Für mich war das eine faszinierende Übung.«

Warum, so können wir fragen, sollte ein afrikanischer Schriftsteller, oder irgendein Schriftsteller, derart davon besessen sein, aus seiner Muttersprache zu entlehnen, um andere Sprachen zu bereichern? Warum sollte er darin seine besondere Mission sehen? Wir stellten uns nie die Frage: Wie können wir unsere Sprachen bereichern? Wie können wir uns beim reichen humanistischen und demokratischen Erbe aus den Kämpfen anderer Völker zu anderen Zeiten und an anderen Orten »bedienen«, um unseres zu bereichern? Warum soll es Balzac, Tolstoi, Scholochow, Brecht, Lu Hsun, Pablo Neruda, H. C. Andersen, Kim Chi Ha, Marx, Lenin, Albert Einstein, Galileo, Aischylos, Aristoteles und Plato nicht in afrikanischen Sprachen geben? Und warum nicht in unseren Sprachen literarische Denkmale schaffen? Oder mit anderen Worten: Warum soll Okara seine Kreativität nicht in Ijaw ausschwitzen, dem er philosophischen Tiefgang und ein breites Spektrum an Ideen und Erfahrungen bescheinigt? Worin besteht unsere Verantwortung im Kampf der afrikanischen Völker? Nein, diese Fragen wurden nicht gestellt. Was uns viel mehr beschäftigte, war Folgendes: Würde als gutes Englisch oder gutes Französisch akzeptiert werden, was wir nach all den literarischen Verrenkungen des »Ausweidens« unserer Sprachen als Ergebnis vorlegten, mit dem wir dem Englischen und anderen Fremdsprachen Leben und Vitalität einhauchen wollten? Würde der jeweilige Herrscher über diese Sprache unseren Sprachgebrauch kritisieren?

Wie sind wir zu einer solchen Zustimmung zur »fatalistischen Logik der unantastbaren Stellung des Englischen in unserer Literatur«, in unserer Kultur und in unserer Politik gelangt? Wie sah der Weg vom Berlin des Jahres 1884 über Makerere 1962 bis hin zu dem Zustand aus, der auch noch einhundert Jahre später von dieser immer noch waltenden und dominanten Logik geprägt ist?

Schwert und Gewehrkugel führten zum Berlin des Jahres 1884. Der Nacht des Schwertes und der Gewehrkugel aber folgte der Morgen der Kreide und der Schultafel. Die physische Gewalt des Schlachtfeldes wurde von der psychischen Gewalt des Klassenzimmers abgelöst. Wohingegen ersteres jedoch sichtlich brutal war, war letzteres sichtbar sanft, ein Prozess, der in Cheikh Hamidou Kanes Roman »L’aventure ambigué« beschrieben ist, in dem er über die Methoden der kolonialen Phase des Imperialismus spricht, in der man effektiv zu töten weiß und ebenso kunstfertig zu heilen: »Auf dem Schwarzen Kontinent begann man zu verstehen, dass ihre eigentliche Macht nicht im mindesten auf den Kanonen jenes ersten Morgens beruhte, sondern auf dem, was den Kanonen folgte. Deshalb stand hinter den Kanonen die neue Schule. Die neue Schule besaß sowohl die Natur der Kanone als auch des Magneten. Von der Kanone bezog sie die Wirksamkeit der Kampfeswaffe. Doch besser noch als die Kanone verlieh sie der Eroberung Dauer. Die Kanone zwingt den Körper und die Schule zieht die Seele in ihren Bann.«

Meiner Ansicht nach war die Sprache das wichtigste Vehikel, dank dessen jene Macht faszinierte und die Seele gefangen hielt. Die Gewehrkugel war Mittel der physischen Unterwerfung. Die Sprache war Werkzeug der geistigen Unterwerfung.

1Ngũgĩ wa Thiong’o versteht »Rassen« nicht biologistisch. »Rassen« sind das Ergebnis rassistischer, kulturell-diskursiver Setzungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte wirkmächtig in Glaubensgrundsätze, (Sprech-)Handlungen und identitäre Muster eingeschrieben haben und damit Erfahrungen und (Lebens-) Realitäten prägen (Anm. d. Hrsg.).

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