Ärger mit elektronischer Gesundheitskarte

Digitalisierung könnte das Gesundheitswesen stark verändern - theoretisch. Doch schon das erste Projekt stockt

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

Über die Möglichkeiten, die sich aus der Digitalisierung im Gesundheitswesen ergeben könnte, wird derzeit viel diskutiert: Roboter könnten bei Operationen helfen, autonome Drohnen Notfall-Ausrüstungen abwerfen und Live-Bilder an Rettungskräfte übermitteln. In der Ausbildung werden spezielle elektronische Brillen eingesetzt, mit denen das Körperinnere dreidimensional dargestellt wird. So kann ein Herz virtuell vergrößert, gedreht und von allen Seiten betrachtet werden. Über Algorithmen wäre zudem schneller feststellbar, welche Studien für welche Patienten nützlich sein könnten. Bei einem »Healthcare Hackathon« in Kiel tüftelten Ende September Industrievertreter mit Gesundheitsökonomen an digitalen Lösungen für praktische Fragen, beispielsweise, wie man bei der Krankenhausaufnahme lange Wartezeiten für Patienten vermeiden kann.

Noch fehlt es aber an rechtlichen, technischen und auch finanziellen Voraussetzungen dafür, dass es nicht bei Insellösungen bleibt. So ergab eine Umfrage der Evangelischen Bank unter 50 Kliniken, dass 84 Prozent von ihnen Digitalisierungsvorhaben für schwer finanzierbar halten.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung weist vor allem auf die Notwendigkeit rechtlicher Forderungen im Hinblick auf rechtliche Veränderungen hin: Niedergelassene Ärzte wollten mehr Möglichkeiten für die Telemedizin, auch als Anlaufstelle für Patienten im Notfall, doch müsste dazu erst das Fernbehandlungsverbot gelockert werden. Vorstellbar scheint ferner, dass neben Gesundheitspersonal künftig auch Patienten Zugang zu ihren persönlichen Werten, Diagnosen und Therapiedetails erhalten.

Viele Akteure im Gesundheitswesen sehen die Digitalisierung des Sektors als eines der großen Themen der neuen Bundesregierung. Dies heißt aber noch lange nicht, dass deutliche Fortschritte tatsächlich erreicht werden. Als Altlast gilt die elektronischen Gesundheitskarte (eGK), für die bereits 2,2 Milliarden Euro ausgegeben wurden. Diese kann aber immer noch nicht viel mehr, als Patientenstammdaten zu speichern und ein Passbild zu tragen. Elf Jahre nach der Einführung, meinen Kritiker, sei die Technik nun auch noch veraltet.

Da ist der Ablauf der Gültigkeit von Gesundheitskarten mit dem Aufdruck G1 ab Oktober nur ein kleiner Stolperstein - vor allem für Patienten, die das noch gar nicht wissen. Ihre Karte kann nicht mehr eingelesen werden, ein kleiner bürokratischer Kraftakt ist nötig, damit sie trotzdem behandelt werden und außerdem eine neue Karte bekommen.

Die »elektronische Patientenakte« sollte eine, wenn nicht die wichtigste Funktion der Gesundheitskarte werden. Dafür gibt es noch nicht einmal einheitliche Rahmenbedingungen. Das Gesundheitsministerium will nun bis 2021 erreichen, dass jeder gesetzlich Versicherte über die »einrichtungsübergreifende elektronische Patientenakte« verfügt.

Die neuartige Akte soll Doppeluntersuchungen vermeiden helfen und die »bruchfreie« sektorübergreifende Versorgung sichern, hieß es Anfang Oktober aus dem Ministerium. Die Kassenärzte fordern, dass das Prinzip der zwei Schlüssel - ein Code vom Arzt und ein Code des Patienten - als Zugangsvoraussetzung gestrichen werden. In der Praxis sei dies zu kompliziert. Es ist darüber hinaus auch immer noch nicht klar, ob die Anbieter die Verwaltungssysteme der Praxen und die Akten kompatibel gestalten müssen.

Weil es bei Gesundheitskarte und der dazugehörigen Infrastruktur zu langsam vorwärts geht, werden Alternativen gefordert und schon vorbereitet. So erwägen niedergelassene Ärzten, eigene Produkte auf den Markt zu bringen oder entwickeln zu lassen. In Köln gründete sich in diesem Jahr ein »Bund zur Verbreitung digitaler Innovationen im Gesundheitswesen e.V.«, der sowohl Initiativen von Unternehmen fördern als auch die gesetzlichen Ansprüche von Patienten auf ihre Daten durchsetzen will. Als erstes will der Verein konkrete Anforderungen an den Gesetzgeber bündeln.

Die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) plant zudem ein eigenes Netzwerk: Zunächst soll es in Mecklenburg-Vorpommern ab November für die Versicherten eine digitale Akte samt Medikationsplan geben, anwendbar in zwei Kliniken und einem Ärztenetz. Schon im Januar will die AOK mit den privaten Sana-Kliniken und dem Krankenhauskonzern Vivantes in Berlin dann eine Pilotphase für 114 000 Versicherte starten. Das AOK-Netzwerk soll als offene Plattform nicht nur allen Gesundheitsakteuren, sondern auch anderen Krankenkassen zur Verfügung stehen. Dieser Aufschlag könnte dazu beitragen, dass ein neu besetztes Gesundheitsministerium im Bund die bisherige elektronische Gesundheitskarte doch noch für gescheitert erklärt. In Ärzteverbänden und bei den gesetzlichen Krankenkassen wird über solchen Absichten schon gemutmaßt.

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