Gewaltige Metamorphose

Aus fünf Punkten Vorsprung wurden bei Borussia Dortmund sechs Punkte Rückstand

  • Andreas Morbach, Dortmund
  • Lesedauer: 4 Min.

Väterlich legte Jupp Heynckes (72) dem Kollegen Peter Bosz (53) den Arm quer über den Rücken, redete noch einige Sekunden in freundlichem Ton auf ihn ein, dann schob er den Niederländer vorsichtig zum Ausgang. Den Grandseigneur mit dem grauen Haar und dem enormen Erfahrungsschatz spielte der Bayern-Trainer auch nach dem 3:1 in Dortmund mit erkennbarer Lust. Während sich Bosz den Kopf darüber zerbrach, was da bei seinen Borussen in den vergangenen Wochen so furchtbar zu Bruch gegangen ist.

Bei seiner Suche wurde der kahlköpfige Coach auch rasch fündig - im Terminkalender. »Nach der letzten Länderspielpause waren unsere Ergebnisse sehr negativ. Jetzt ist wieder eine Länderspielpause. Da müssen wir genau hinschauen, wie die Spieler zurückkommen - und die Sache danach wieder umdrehen«, deutete er an, dass der gewaltige Einbruch seiner Mannschaft im Oktober außerhalb des eigenen Machtbereichs seinen Anfang nahm. Nun soll es also ein Zurück in die Zukunft geben. Die grundsätzliche Problematik hat Bosz allerdings auch gleich erkannt, weiß er doch: »Viele Spieler sind jetzt ein, zwei Wochen weg. Unser nächstes Spiel in Stuttgart ist an einem Freitag, aber die meisten kommen vor Donnerstag nicht zurück. Das wird schwer.«

Schwer fielen den Dortmundern auch die letzten Wochen. Aus fünf Punkten Vorsprung auf Serienmeister München am 1. Oktober sind in Rekordzeit sechs Punkte Rückstand geworden - aus sehr offensichtlichen Gründen. Nach seiner erneuten Reaktivierung als Bayern-Heiler hat Jupp Heynckes vor allem die bajuwarische Defensive stabilisiert, das späte Anschlusstor des BVB durch Marc Bartra war der erste Gegentreffer in der Liga seit seiner Rückkehr. Der eingeknickte Herausforderer aus Westfalen dagegen, durch die ersten fünf Runden noch ohne ein einziges Gegentor marschiert, erlebte im selben Zeitraum eine gewaltige Metamorphose - vom Hochsicherheitstrakt zum sperrangelweit geöffneten Scheunentor.

In den Partien gegen Leipzig, in Frankfurt, in Hannover und nun gegen München schluckte Dortmund zwölf Tore - und eine schnell wirkende Medizin gegen diese schlimme Abwehrkrankheit hat Peter Bosz nicht parat. Der These, dass dies nichts mit dem sehr offenen 4-3-3-System des Trainers zu tun hat, widersprachen bereits einige Borussen, ganz aktuell Gonzalo Castro. »Das war nie eine Frage des Systems, das wurde von den Medien hochgespielt. Das Problem liegt komplett bei uns«, nahm der Mann aus dem defensiven Mittelfeld die Mannschaft in die Pflicht.

In der Tat agierten die Hausherren gegen die Bayern nicht mehr ganz so riskant wie in den Champions-League-Partien in Tottenham und gegen Real Madrid oder im 2:3 verlorenen Punktspiel gegen Leipzig. Drei Nackenschläge durch Arjen Robben, Robert Lewandowski und David Alaba kassierten sie trotzdem - weil das komplette Defensivkonstrukt der Borussia brüchig wie ein altes Sofa ist. Das Abwehrverhalten von Marcel Schmelzer, Ömer Toprak, Sokratis oder Bartra war in einigen entscheidenden Szenen haarsträubend. Oder wie es Peter Bosz ausdrückte: »Wir verteidigen sehr weich, stehen zu weit von den Gegenspielern weg.«

Auch Roman Bürki (»Am Anfang war unser Torverhältnis unglaublich, aber wir dürfen nicht verzweifeln«) hat dieses Dilemma längst erkannt. Als der BVB-Schlussmann im Bauch der Dortmunder Arena seine Ansichten zur Partie präsentierte, liefen auf dem Bildschirm über seinem Kopf bereits die ersten Jubel-Selfies aus der Bayern-Kabine. Tausende Borussen-Fans verließen schon lange vor dem Abpfiff fast fluchtartig das Stadion. Rund um den schwarz-gelben Tempel herrschte bedrücktes Schweigen, in der Tabelle ist der Revierklub hinter Leipzig auf Rang drei zurückgefallen - und Vereinsboss Hans-Joachim Watzke konstatierte: »Wir müssen das hier nicht kleinreden. Das ist schon eine Situation, die nicht schön ist.«

Die Abwärtsspirale beim einstigen Spitzenreiter ist zu eindeutig als dass eine Wende per Knopfdruck zu erwarten ist. Fehlende Qualität als Grund für die Misere bestreitet Chefübungsleiter Bosz jedoch, zudem beteuert er tapfer: »Ich glaube nicht, dass zwischen der Mannschaft und mir etwas kaputt gegangen ist. Aber das Vertrauen ist erst mal weg, das macht es schwierig.«

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