Mensch macht sich nicht selbst

Amitav Gosh entlarvt eine große Verblendung

  • Dominik Müller
  • Lesedauer: 4 Min.

In seinem jüngsten Essay, das nun auch auf Deutsch erschienen ist, beschäftigt sich Amitav Gosh mit der Rolle der Klimaerwärmung in der Literatur. Tatsächlich finden sich auf dem Buchmarkt kaum Ansätze für eine verstärkte künstlerische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Klimaerwärmung. Der Romancier von Weltrang, der in den USA und in Indien lebt, versucht eine Erklärung dafür zu finden.

Die Klimakrise sei, so seine These, auch die Krise einer Kultur, die untrennbar mit den größeren, weltprägenden Geschichten von Imperialismus und Kapitalismus verknüpft sei. Daraus resultierend konstatiert Gosh eine Krise der literarischen Fähigkeit zur Imagination. Vorlage für sein Buch sind Vorlesungen, die er an der University of Chicago hielt, einer Universität, die weltweit als Vorreiterin für das Studium des Anthropozäns gilt, also des Zeitalters, in dem der Mensch zu einem bedeutenden Einflussfaktor auf biologische und atmosphärische Prozesse geworden ist.

Trotz seiner jahrelangen Beschäftigung mit dem Klimawandel, so merkt Gosh selbstkritisch an, hätten auch seine Romane das Thema nur am Rande gestreift. Darin unterscheide er sich nicht von seinen Kolleginnen und Kolĺegen. Das Unvorstellbare in der Literatur darzustellen sei eine Aufgabe, die einem Autor viel abverlange. Bezeichnend dafür ist etwa die Vokabel »beispiellos«, die häufig benutzt wird, wenn es um die Beschreibung von Sturzfluten, Jahrhundertstürmen oder anhaltenden Dürren geht. Nicht nur im Journalismus, auch in der Literatur herrscht diesbezüglich eine regelrechte Sprachlosigkeit vor.

Eine Ursache dafür sieht Gosh in der Spaltung von Natur und Kultur, die ein originärer Impuls der Moderne sei. Ein paradoxes Phänomen, denn die literarische Imagination begann sich just in dem Moment radikal auf den Menschen zu fokussieren, als dieser durch sein Handeln die Erdatmosphäre veränderte. Das gilt, so Gosh, vor allem für die Mainstreamliteratur - ausgenommen einige Nebengenres wie Science-Fiction. In der traditionellen Literatur - etwa der Ilias und der Odyssee - gab es hingegen ein Gewahrsein von der Existenz nichtmenschlicher Wirkungskräfte.

Warum aber hat sich die Imagination der Katastrophe derart zurückgebildet, fragt sich Gosh. Die Antwort findet er in den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Dazu gehört der fossile Industriekapitalismus ebenso wie die koloniale Siedlungspolitik. Stadtgründungen wie beispielsweise Hongkong, Mumbai, Chennai und New York prägen bis heute die Wertvorstellungen des Bürgertums. Anders als vorkoloniale Städte wie Amsterdam, Stockholm, Hamburg und Lissabon wurden sie direkt ans Wasser gebaut.

Die Nähe zum Wasser ist ein Kennzeichen für Wohlstand und Bildung, die Küstenlage ein Statussymbol. Der Meerblick steigert heute den Wert einer Immobilie um das Vielfache. Die koloniale Weltsicht, die die Nähe zum Wasser mit Macht und Sicherheit, Herrschaft und Bezwingung gleichsetzt, hat Eingang in die Lebensmuster der Mittelschicht aller Welt gefunden. Die relative Ferne zum Wasser der vorkolonialen Städte, gibt Gosh zu bedenken, war im Gegensatz zu heute dem Respekt vor den Unwägbarkeiten des Elements Wasser geschuldet.

Für den Schriftsteller ist unter anderem dieser Wandel der Siedlungspolitik Ausdruck für die Verblendung des modernen Menschen, seine fehlende Bescheidenheit und seine Überheblichkeit gegenüber der Natur. Dem Expertentum und dem technologischen Machbarkeitswahn der Moderne stellt er das Bewusstsein von den Unwägbarkeiten des menschlichen Daseins entgegen, das sich auch in allen Weltreligionen spiegelt. Gosh drückt im letzten Kapitel seine explizite Wertschätzung gegenüber der päpstlichen Enzyklika »Lautato Si« aus und zitiert zustimmend: »Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur.« Die Freiheit der Menschen endet spätestens dann, wenn der Mensch als Gattung sich selbst zerstört. In den Künsten unserer Zeit, so Gosh, herrsche jedoch »die Vorstellung vor, der menschlichen Freiheit seien keine Grenzen gesetzt«. Künftige Werke der Literatur müssten sich, so könnte man nach der provozierenden Lektüre von Goshs Essay schlussfolgern, daran messen lassen, ob sie mit dieser Vorstellung brechen.

Amitav Gosh: Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare. A. d. Engl. v. Yvonne Badal. Blessing Verlag, 256 S., geb., 22,99 €.

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