Des Menschen Elend

In seinem Roman »Tamaschito« verarbeitet Wieland Förster seine Haft in einem sowjetischen Speziallager

  • Peter Gugisch
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Jahre 2012 hat der Bildhauer, Maler, Zeichner und Schriftsteller Wieland Förster sein Erinnerungsbuch »Seerosenteich« veröffentlicht. Es trägt den Untertitel »Autobiografie einer Jugend in Dresden. 1930 - 1946« und erzählt von Försters Heranwachsen in schlimmer Zeit. Der Autor erinnert sich an Erlebnisse, die er als »Wendemarken« seiner Entwicklung begreift. Der titelgebende Seerosenteich ist keine romantische Reverenz an Storms »Immensee«; hier ist er das »Bild einer unsagbaren Katastrophe«, denn der Teich ist ein Bombentrichter, in den das Wasser einer zerstörten Hauptwasserleitung einströmt. Die Seerosenblütenblätter sind Teile von Menschen, die von Granaten zerfetzt wurden.

»Seerosenteich« ist ein ernstes, ein mahnendes Buch. Ich habe es »für die nächste Generation geschrieben«, hat Förster in einem Interview gesagt. Für Ausflüge in eine »besonnte Vergangenheit« bleibt da kein Raum.

2017, fünf Jahre nach dem ersten, hat der inzwischen 86-jährige Wieland Förster ein zweites Erinnerungsbuch vorgelegt. Ein Diptychon ist entstanden. Das neue Buch trägt den geheimnisvollen Namen »Tamaschito« und wird im Untertitel als »Roman einer Gefangenschaft« bezeichnet. Die Genrebezeichnung Roman lässt aufhorchen. Zweifellos handelt es sich auch bei »Tamaschito« um einen autobiografischen Text. Förster erzählt vom Schicksal eines Sechzehnjährigen in der zweiten Hälfte des Jahres 1946. Es ist sein eigenes Schicksal. Der Verzicht auf das erzählende Ich gibt dem Autor nicht nur Freiheit gegenüber seinem Stoff, er schafft auch den Abstand, der das Unsagbare sagbar und erzählbar macht. Denn »Tamaschito« ist ein Buch, das an die Grenzen des Sagbaren stößt.

Der Roman beginnt am 15. September 1946. Der 16-jährige Thom Gerber wird aus der Familie heraus verhaftet und von einem Wachmann in ein sowjetisches Militärgefängnis gebracht. Er weiß nicht, weshalb das geschieht. Er weiß sich unschuldig und sieht keinen Grund, sich der Verhaftung zu entziehen. Mit dem Eintritt in den Gefängniskomplex kommt er in eine Welt grauenhafter körperlicher und geistiger Erniedrigung. Er wird in eine überfüllte, fast dunkle Sonderzelle gestoßen, in der ein Dutzend Menschen - Russen, Deutsche, Polen; Alte und Junge; Täter und Opfer - zusammengepfercht sind. Ein »Gespenstervolk«. Am Tage sind die Gefangenen zur Untätigkeit verdammt, nur nachts dürfen sie sich dicht gedrängt auf den Boden legen, aber Thom wird in jeder Nacht zu stundenlangen Verhören gebracht, wo ihm die immer gleichen Fragen gestellt werden.

Erst nach achtzig Verhör-Nächten wird Anklage erhoben: Thom soll »mit einer geladenen 08, Heeresmodell, und zwei geladenen Ersatzmagazinen« verhaftet worden sein, als er mit der Straßenbahn »in die Richtung der von der sowjetischen Armee genutzten Kasernen fuhr«. Die Anklage ist absurd. Der Junge ist das Opfer einer Denunziation geworden, aber niemand ist willens und in der Lage, Recht zu sprechen: Am 14. Dezember 1946 wird der Gefangene zu siebeneinhalb Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Nur weil der Generalarzt »angewidert« ist von dem schlotternden, entkräfteten Jungen, entkommt er dem Transport. Sein Weg führt nach Bautzen.

Hier schließt der Roman. Wieland Förster selbst wurde in das sowjetische Speziallager Nr. 4 nach Bautzen gebracht. Von dort wurde er am 21. Januar 1950, schwer tuberkulosekrank, ohne Papiere und offizielle Begnadigung entlassen. Über das Geschehene musste er Stillschweigen bewahren.

Förster gestaltet einen Mikrokosmos, in dem die Menschlichkeit auf die äußerste Probe gestellt ist. In klaustrophobischer Enge entfalten sich die Charaktere, kreuzen sich die Lebensläufe, verschränken sich die Zukunftshoffnungen der eingeschlossenen Personen. Thom erlebt (nach dem schönen Wort von Johannes R. Becher) »des Menschen Elend und des Menschen Größe«. Sinnbild aller Hoffnungen ist ein kariertes Taschentuch, in das ein Gefangener die Worte »TAnte MArthas SCHIchtTOrte« gestickt hat: TAMASCHITO. Als der Gefangene stirbt, wird sein Tuch zum sorgfältig versteckten Schachbrett.

Thom Gerber überlebt. Er ist jung. Und er hat Glück gehabt. Aber er wird nie vergessen.

Wieland Förster hat Notizen von einem Gespräch bewahrt, in dem Franz Fühmann, der Vertraute und Künstlerfreund, Försters Gefangenenjahre als Schlüssel für dessen grandioses bildhauerisches Werk begreift. Von hier, sagt Fühmann, rührt die lebenslange Beschäftigung mit dem menschlichen Körper. Und hier liegt die Wurzel für eine künstlerische Individualität, die man ohne das Wissen um diese Geschehnisse nicht vollständig erschließen kann. Fast 40 Jahre lang hat Förster das Erlebte und Durchlittene beschweigen müssen. Fast 70 Jahre sind vergangen, ehe er es uns - in einem Kunstwerk! - vermitteln konnte. Ein Vermächtnis.

Wieland Förster: Tamaschito. Roman einer Gefangenschaft. Sandstein Verlag, 240 S., geb., 18 €.

An diesem Sonntag, dem 12. November, wird im Käthe-Kollwitz-Museum Berlin die Ausstellung »Im Dialog mit Käthe Kollwitz. Der Bildhauer Wieland Förster« eröffnet, die bis zum 18. Februar 2018 zu sehen ist.

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