Diabetes als Geschäftsmodell

Millionen von Patienten weltweit machen die Stoffwechselkrankheit zum zuverlässigen Umsatzbringer

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

Die »Zuckerkrankheit«, genauer Diabetes mellitus Typ 2, hat bereits mehr als sechs Millionen Deutsche erwischt. Jährlich kommen 300 000 hinzu, im Extremfall schon Kinder. Bei Diabetes mellitus wird der Blutzuckerspiegel nicht mehr natürlich reguliert. Noch einmal 300 000 Menschen haben mit Diabetes vom Typ 1 zu kämpfen, einer angeborenen Autoimmunkrankheit.

Die große Mehrheit aber hat sich den Zucker regelrecht angefressen. Fehlende Bewegung und bei einigen eine genetische Disposition kommen als Ursachen hinzu. Wissenschaftler gehen bei Diabetes Typ 2, früher Altersdiabetes genannt, außerdem noch von zwei Millionen Nicht-Diagnostizierten aus, und von weiteren Millionen Menschen mit Vorstufen. Allein diese Zahlen für nur ein Land sagen alles: Hier besteht ein riesiger Markt.

Das beginnt bei den Medikamenten. Zu den am besten untersuchten oralen Antidiabetika gehört Metformin, erstmals vor etwa 60 Jahren von Merck auf den Markt gebracht. Es wird heute wieder häufiger verschrieben, nachdem jahrelang Einschränkungen für einzelne Patientengruppen galten. Metformin hat sich auch in Kombinationspräparaten bewährt. So konnte Boehringer Ingelheim für Linagliptin und dessen Kombinationen mit Metformin 2016 Umsatzzuwächse von 24 Prozent auf 1,1 Milliarden Euro verbuchen.

Weltweit führend in der Diabetes-Behandlung ist die dänische Novo Nordisk - Börsianer bescheinigen dem Unternehmen das Agieren in einem »starken Wachstumsmarkt«. Gerechnet wird bis zum Jahr 2040 mit weltweit über 640 Millionen Zuckerkranken. Hoffnungsvoll stimmt die Anleger, dass der ungesunde westliche Lebensstil auch in Asien auf dem Vormarsch ist.

In einen solchen Markt werden gerne neue Produkte platziert. Bei der Medikmantengruppe der Gliptine ist das jedoch zumindest in der Bundesrepublik nicht immer gelungen. Unternehmen wie Novartis oder AstraZeneca zogen ihre Innovationen wieder vom Markt zurück, da sie den Gemeinsamen Bundesausschuss nicht von einem Zusatznutzen gegenüber bestehenden Therapien überzeugen konnten. Das Gremium entscheidet über die Erstattung durch die Gesetzliche Krankenversicherung.

Neben den Medikamenten einschließlich diverser Insulinvarianten sind auch Blutzuckermessgeräte ein bedeutender Markt. Hier operieren Unternehmen wie Roche, Bayer und Abbott. Auch die Diabetik Express GmbH aus dem bayerischen Germering bietet die Geräte an, fördert zudem die Deutsche Diabetes-Stiftung und arbeitet Konzepte für Diabetes-Tage aus. Die Förderung diverser Patientenorganisationen durch die Industrie folgt ebenfalls der Idee, dass diese Art direkter Kundenkontakt den Absätzen kaum schaden wird.

Selbst ansonsten wenig technikaffine Senioren haben es schon lange begriffen: Mit einer Blutzuckermessung und folgender passender Insulingabe können sie sich so gut wie jede süße Sünde gestatten. Der technische Vorgang gibt das Gefühl, die Sache unter Kontrolle zu haben. Viele Erkrankte machen auf diese Weise auch nach ersten amputierten Zehen, grauem Star und Nierenschäden weiter. Das reduzierte und mechanistische Krankheitsverständnis wird durch verbesserte Heim-Diagnostik offenbar noch gefördert. Viele Meldungen zum Weltdiabetestag in dieser Woche setzen auf technische Lösungen. Nach Insulinpumpen und Systemen zur kontinuierlichen Glukosemessung werden 2018 die ersten sogenannten Hybrid-Closed-Loop-Systeme auf dem Markt erwartet. Sie funktionieren fast wie eine künstliche Bauchspeicheldrüse, steuern Messung und Insulingaben annähernd automatisch. Über diese und ähnliche Entwicklungen informiert zum Beispiel ein Patiententag in Berlin an diesem Wochenende. Hier werden in einem großen Ausstellungsbereich auch neueste Produkte zum Blutzuckermessen vorgestellt.

Bei aller Vorfreude auf noch bequemere technische Lösungen gerät das Einfachste aus dem Blick. Für die Diabetes-Vorstufen gilt: »Fünf Kilo abnehmen, eine halbe Stunde pro Tag körperlich aktiv sein und sich einigermaßen gesund ernähren - damit lässt sich das Risiko um 80 bis 90 Prozent senken.« So jedenfalls die Einschätzung von Andreas Pfeiffer, Internist an der Berliner Charité.

Die Lebensstil-Ansätze, wenn auch vor jeder anderen Therapie als Erstes empfohlen, scheinen zu viel zu fordern: Zum einen haben Lebensmittelindustrie und Handel über Jahrzehnte eine adipogene, also Fettsucht begünstigende, oder präziser: toxische Umgebung aufgebaut. Hoch verarbeitete Lebensmittel mit zugesetztem Fett, Zucker und/oder Salz sind permanent verfügbar. Gleichzeitig kann und will kaum noch jemand selbst kochen.

Süß und fett schmeckt eben den meisten, das kommt menschlichen Bedürfnissen entgegen. Der Ernährungswissenschaftler Hans-Georg Joost vom Dachverband diabetesDE hält Adipositas als wichtigen Vorläufer der Stoffwechselerkrankung sogar für genetisch programmiert. Das trägt dazu bei, dass Zucker-Patienten sich häufig als Genießer verstehen, die mit neuester Messtechnik auch alle gesundheitlichen Folgen im Griff haben.

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