Die Angst will nicht vergehen

Hilflos sehen Betroffene zu, wie Sondierungs-Unterhändler über das Schicksal ihrer Familien entscheiden

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Mohamad 2015 nach Deutschland floh, tat er dies im Glauben, hier werde die Angst ein Ende haben. Er wollte seine Frau und die beiden Söhne nachholen, gleich, wenn er es geschafft hätte. Bei der Familie seiner Frau im syrischen Kurdengebiet, zu der sie gemeinsam aus Aleppo geflohen waren, wurde das Leben immer schwieriger. Medikamente gab es nicht, die Mohamads Frau nach zwei Operationen der Schilddrüse dringend brauchte. Außerdem: »Wenn Sie in Syrien leben, müssen Sie sich für eine Kriegspartei entscheiden«, sagt Mohamad in gebrochenem Deutsch. Dies sei die einzige Einkommensgarantie. Doch er wollte nicht kämpfen. In Deutschland würden Flüchtlinge aufgenommen, hatte er gehört.

Von einem »subsidiären Schutz«, den der 43-Jährige schließlich erhielt, hatte er nie gehört. Dies ist ein minderer Schutzstatus, der zunächst für ein Jahr gilt und dann geprüft wird. Noch 2015 wurden nahezu alle syrischen Kriegsflüchtlinge als Flüchtlinge entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt. Inzwischen nicht mehr. In diesem Jahr erhielten 62 Prozent der Antragsteller aus Syrien nur noch den subsidiären Schutz. Während die erste Gruppe ein Recht auf Familienzusammenführung hat, ist dieses Recht bei der zweiten ausgesetzt. Als der Bundestag im März 2016 beschloss, den Rechtsanspruch zwei Jahre einzufrieren, war Mohamads Familie davon auch betroffen. Im nächsten März könnten die Familien ihre Anträge stellen. Wahrscheinlich würde es nochmals Monate dauern. Mohamad hat gegen den Flüchtlingsbescheid des Amts beim Verwaltungsgericht geklagt, will einen besseren Schutzstatus. Das kann ebenso lange dauern. Mohamad ist verzweifelt. »Wissen Sie, wie es ist, von Ihrem Kind am Telefon zu hören, dass hinter dem Haus eine Bombe explodiert ist«, sagt er mit erstickter Stimme und kann nicht weitersprechen.

Der Kurde sitzt am Mittwoch in einem Raum voller Journalisten. Schwer zu sagen, wie viel Überzeugungskraft es Günter Burkhardt und Karim Al-Wasiti von der Arbeitsgemeinschaft Pro Asyl gekostet hat, ihn hierher zu bringen. Doch wie die 22-jährige Sara aus Damaskus, die neben ihm sitzt, würde Mohamad alles tun, seine Familie zu retten. Auch Sara weint schon bald. Ihr Vater hat Krebs, und ohne seine Frau wird er es nicht schaffen, befürchtet sie. Die Mutter harrt mit vier Söhnen in Jordanien aus.

Mohamad und Sara versuchen zu verstehen, was bei den Sondierungen einer Jamaika-Koalition passiert. Die Unionsparteien haben, wie auch die FDP, erklärt, dass sie die Familienzusammenführungen weiter eingefroren halten wollen. Die Grünen allein scheinen das noch abwenden zu können. Was, wenn die Grünen klein beigeben, Familiennachzug ausgesetzt bleibt? Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, hofft auf das Gewissen von Unionsabgeordneten, auf Einspruch innerhalb der Parteien, abseits der Unterhändlerrunden. Er nennt die Wünsche der Menschen hier am Tisch »einfach«. Es gehe um keine unlösbare Aufgabe für Deutschland, keine unerfüllbaren Forderungen und auch um kein Gnadenrecht, sondern um Grundrechte, um den Wert der Familie. Burkhardt warnt vor »faulen Kompromissen« - wie bei den 4500 Familienangehörigen, die in Griechenland unter unmenschlichen Bedingungen ausharren, weil angeblich die Flugkapazitäten nach Deutschland nicht ausreichen.

Die meisten syrischen Flüchtlinge werden auf absehbare Zeit hierbleiben, sagt Burkhardt. Und es wird die Rückkehr nicht erleichtern, wenn jemand subsidiär statt nach der Genfer Flüchtlingskonvention geschützt war. Vorstellungen unter Berliner Politikern, mit dem Nachlassen der Kriegshandlungen werde die Rückführung aktuell, seien realitätsfern.

In der Familienzusammenführung sehen die Grünen einen Weg zur besseren Integration. Doch dies ist kein gemeinsames Ziel der Sondierer. Das Bundesamt für Flüchtlinge BAMF ist auf Geheiß der Politik in den letzten Jahren zu pauschalen Entscheidungen übergegangen, wo individuelle Prüfung gesetzlich vorgegeben ist, kritisiert Pro Asyl. Eine hohe Fehlerquote sei das Ergebnis. 320 000 Klagen wie die von Mohamad sind derzeit bei Gericht anhängig. Die Mehrheit solcher Fälle werde positiv beschieden, sagt Burkhardt. Eine Antwort von Gericht auf seine Klage hat Mohamad bisher noch nicht. Die Angst wird so bald nicht vergehen.

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