Gewaltherrschaft, Verrat, Vernichtung

Große Musik, missglückte Regie: Giacomo Meyerbeers Revolutionsoper »Le Prophète« an der Deutschen Oper Berlin

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 4 Min.

Jean de Leyde alias Jan van Leiden alias Johann Bockelson, Frührevolutionär aus der gärenden Epoche um Reformation und Bauernbewegung in den 1530er Jahren ist lange tot. Am Pariser Gedenkstein für den zum König gekrönten Anführer der Täuferbewegung in Münster versammeln sich die Arbeiter. Vor schwarzen Häuserskeletten altmodischer Mietskasernen, die gerade neueren Wohnmaschinen weichen müssen, singen sie ein unproletarisch-poetisches, pastorales Morgenlied, bevor sie ganz unpoetisch-proletarisch beschließen zu frühstücken. Später werden Trikoloren geschwenkt.

So beginnt Olivier Pys Inszenierung des »Propheten« von Giacomo Meyerbeer. Mit diesem Großwerk vollendet die Deutsche Oper Berlin ihren höchst verdienstvollen Meyerbeer-Zyklus. Eine Rehabilitation des größten der unbekannten Berliner Komponisten sollte es werden, des absoluten Meisters der französischen Grand opéra. Aber warum wurde für das Werk, das die Krönung dieses Vorhabens sein könnte, ein Regisseur aus dem unteren Mittelfeld gewählt? Mit der polaren Geradlinigkeit der »Hugenotten« in der vergangenen Spielzeit kam der glamouröse Olivier Py noch einigermaßen zurecht; an den Ambivalenzen, Verführungen, Zweideutigkeiten, psychologischen Krassheiten der Wiedertäufer-Oper aber scheiterte er komplett. Statt die Figuren im Sinne des Librettisten (Eugène Scribe) und des Komponisten offenen Ohres zu ergründen, ließ er kompakte Chöre in schwarzer Bühnenarchitektur rotieren, wahlweise auch nackte Männer. Ab jetzt weiß die historische Forschung: Die Täuferbewegung war schwul, trotz Vielweiberei.

Schon der Beginn ist großartig komponiert und gebaut, doch diese diffuse Landidylle zum Klarinettenklang verfliegt, sobald drei choralsingende Wander-Agitatoren den Bauern unter die Nase reiben, wie bescheiden ihre Lage ist. Aufruhr flammt gewaltig auf - und verpufft sofort, als der zuständige Graf des Weges kommt. Oder die drei selbst, heilige Revolutionäre, Verräter, Aufwiegler, Witzbolde - Py lässt sie singend gehen und stehen und nichts weiter. Noch marginaler sind die weiblichen Hauptfiguren behandelt: Eine Braut, vom Landesherrn vergewaltigt, kann fliehen und hat nichts anderes im Sinn, als den Anführer der Wiedertäufer zu ermorden. Sie kennt ihn nicht, weiß aber wohl, dass seine Bewegung gegen ihren Peiniger geht. Jeans Mutter, Meyerbeers heimliche Heldin, segnet ihren Sohn, weil er sie und nicht die Liebste vor dem Tode rettet. Später schwört sie ihm koloraturenreich und ekstatisch den Tod, weil er sie aus taktischen Gründen verleugnen musste. Wagners Mutterkomplex lässt grüßen. Der Regisseur lässt beide Frauen rampennah singen.

Die Titelfigur Jean ist ein biederer Bursche, der sich angesichts gräflicher Willkür an seiner Braut radikalisiert, sich zum Täuferkönig aufbauen lässt, voller Skrupel ein blutiges Regime führt und schließlich mitsamt Feinden und Verrätern in Blut und Flammen untergeht - auch ihm bleibt kaum mehr als die konventionelle Operngeste.

Meyerbeer erlebte während der Uraufführungsproben die blutigen Februarunruhen von 1848 in Paris. Bewusst ging er auf die Straße, um zu sehen, was geschah. Weit davon entfernt, die Obrigkeit anzugreifen, spendete er doch großzügig für die Verwundeten. Die Folge für den hyper-selbstkritischen Komponisten war ein Umarbeiten der Partitur. Noch schärfer spiegelte er zur Uraufführung im April 1849 die Zweifelhaftigkeit gewaltsamer Aufstände an sein Publikum zurück: Aufschwung, Gewaltherrschaft der Revolutionäre, Verrat, Vernichtung; ein Katastrophenschluss, dessen Zukunftsoptionen niemand kennt. Man verstand ihn, ein sensationeller Erfolg.

Musikalisch war die Aufführung in der Deutschen Oper eine Großtat. Dirigent Enrique Mazzola fand die Meyerbeer’sche orchestrale Zwischenwelt am Ende des Belcanto und vor der Verdi-Wagner-Klangmacht. Mazzola spielte mit Farben, übte Präzision, hielt im Zaum und balancierte das Ambivalente in Meyerbeers Intentionen genau aus. Wunderbar auch der dunkle Glanz des Chorklangs.

Die Solisten hatten Riesiges zu bewältigen in diesem Viereinhalbstunden-Opus. Gregory Kunde in der Titelpartie legte anfangs reichlich Kraft in seine vielen hohen Töne, sein Gesang aber wurde immer geschmeidiger, farbenreicher, wohltönender; schließlich lauschte man nur noch staunend. Eine tiefe Orgelstimme steht Clémentine Margaine, Jeans Mutter Fidès, zur Verfügung. Vokal beglaubigte sie ihre schier majestätische Partie höchst überzeugend. Selbst die Koloraturen ihrer überlangen Arie im Schlussakt schleuderte sie mit Verve hinaus. Leuchtend klar, lyrisch warm und dennoch glitzernd Elena Tsallagova als traurige Braut Berthe. Ihre schönsten Töne singt sie im letzten Akt, im Kerker, im kurzen Moment utopischen Glaubens vor der Verzweiflung.

Berlins Publikum kann ein faszinierendes Werk kennenlernen. Sorgsam inszeniert sollte es unbedingt ins Repertoire zurückkehren.

Nächste Vorstellung am 30. November

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