»Wir wollen ein neues Syrien«

Die Leiterin der Verwaltung im nordsyrischen Afrin im Gespräch über Frieden und die Türkei

  • Karin Leukefeld
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie sind Ministerpräsidentin des Kantons Afrin. Wie wird Afrin verwaltet?
Hier arbeiten alle gleichberechtigt zusammen, Frauen und Männer. Das gilt für alle Ebenen, von den Angestellten bis zur Verwaltung. Nachdem wir nach hartem Kampf das Regime vertrieben hatten, haben wir die Verwaltung übernommen, um die Bevölkerung mit allem zu versorgen, was sie braucht. Wir haben 15 Ministerien eingerichtet, es gibt Minister für Verteidigung, innere Angelegenheiten, für Außenangelegenheiten, Gesundheit, Kultur und so weiter. Die Aufgabe aller ist, für das Wohl der Bevölkerung zu sorgen. Die Amtszeit unseres Rates beträgt vier Jahre. Unsere Aufgabe ist es, der Bevölkerung beizubringen, wie sie sich selbst verwalten und wie sie lernen kann, alle Probleme des Zusammenlebens zu lösen.

Afrin liegt im Nordwesten Syriens, in direkter Nachbarschaft zur Türkei. Wie ist die Lage hier?
Wie Sie wissen, unterliegt Afrin einer Belagerung. 75 Prozent unseres Gebietes grenzt an die Türkei, der Rest an die Gebiete der verschiedenen terroristischen Gruppen. Immer wieder gibt es Angriffe sowohl von türkischer Seite als auch von den Terroristen.

Hevi Mustefa
Die ehemalige Lehrerin Hevi Mustefa leitet die Verwaltung des Kantons Afrin als Ministerpräsidentin. 2014 rief die (kurdische) Partei der Demokratischen Union (PYD) für Afrin und Gebiete in den Provinzen Rakka und Hasakeh eine »Nordsyrische Föderation« aus. Seitdem besteht eine enge kurdisch-US-amerikanische Kooperation in der so genannten »Anti-IS-Koalition«. 

Ist es richtig, dass die Türkei entlang der Grenze eine Mauer baut?
Ja, das stimmt. Dabei bauen sie nicht nur eine Mauer, sondern sie dringen in unser Land ein, besetzen und zerstören privates Eigentum. Entlang der Grenze zur Türkei haben wir viele Olivenbäume, die von unseren Bauern bearbeitet werden, wo geerntet werden muss. Die Türkei greift die Bauern an und beschießt sie. Immer wieder haben wir uns an die internationalen Menschenrechtsorganisationen gewandt, um darauf aufmerksam zu machen, was an der Grenze geschieht. Ohne Erfolg. Türkische Soldaten zerstören die Olivenbäume und stehlen unser Land an der Grenze.

Das ist ein klarer Völkerrechtsbruch. Geht die Verwaltung von Afrin dagegen juristisch vor?
Wir haben alles dokumentiert: jeden zerstörten Baum, jeden besetzten Kilometer Land, jeden getöteten Anwohner. Wir haben Anwälte beauftragt, eine Anzeige vorzubereiten.

Wie viele Menschen leben in Afrin?
Die Zahlen ändern sich ständig. Vor der Revolution hatte Afrin - Stadt und Umland - etwa 400 000 Einwohner. Diese Zahl hat sich mehr als verdoppelt, bis zu eine Millionen Menschen leben hier. Wir haben hier viele Inlandsvertriebene aufgenommen.

Gibt es Unterstützung von UN-Organisationen wie UNICEF oder UNHCR? Oder Hilfe vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes?
Das IKRK hilft uns etwas durch die Rote Halbmondgesellschaft. Häufig werden die Straßen gesperrt, wenn es Kämpfe zwischen Opposition und Regierung gibt. Man hat uns gesagt, dass deswegen so wenig Hilfe käme. Jetzt brauchen wir dringend Zelte wegen des Winters.

Sie haben das Verteidigungsministerium erwähnt. Es gibt ja seit Oktober 2014 auch eine Armee für die Selbstverteidigung. Werden junge Leute für diese Armee rekrutiert?
Wir haben zwar Kontakte, sind aber nicht verantwortlich für YPG und YPJ. Für uns ist wichtig, dass wir unser Gebiet verteidigen können.

Selbstverteidigung gegen die Türkei und die bewaffneten Gruppen? Oder auch gegen die syrische Armee?
Es geht darum, die Zivilisten vor allen Angriffen zu schützen. Wir schießen auf niemanden. Aber wenn uns jemand angreift, schießen wir zurück.

Haben Sie zur syrischen Regierung oder zur Verwaltung in Aleppo Kontakte?
Nein, wir haben keine Beziehungen. Es gibt allerdings hier Angestellte, die bis heute beim Regime angestellt sind. Sie arbeiten in der Wasser- und Stromversorgung, der Telefongesellschaft. Wenn sie mit uns Kontakt aufnehmen wollen, sind sie willkommen. Sonst gibt es keine Beziehungen.

Ende Januar soll eine Konferenz für den nationalen Dialog in Syrien in der russischen Stadt Sotschi stattfinden. Werden Sie teilnehmen?
Wir unterstützen alle Konferenzen bei denen es um Frieden und Dialog geht. Egal wann und wo sie stattfinden. Aber die Türkei blockiert unsere Teilnahme. Unsere Verwaltung ist keine PYD-Verwaltung, keine Verwaltung nur für Kurden. Wir arbeiten für die ganze Bevölkerung, Kurden, Araber, Assyrianer, Tscherkessen, alle. Wenn wir an einem Dialog beteiligt werden, wird es eine Lösung für Syrien geben. Das will die Türkei nicht, darum blockiert sie unsere Teilnahme.

Wurden Sie denn nach Sotschi eingeladen?
Ja, wir haben eine Einladung. Aber es ist noch nicht klar, wer und wie viele von uns dorthin gehen werden.

Was wünschen Sie sich für das kommende Jahr?
Ich wünsche uns Frieden und dass eine Lösung für Syrien gefunden wird. Und ich wünsche uns, dass wir geografisch zurück zu Syrien finden, aber nicht zu diesem politischen Regime. Wir wollen ein neues System, ein neues Syrien. Nur wir haben ein Projekt für Syrien, eine föderale Verwaltung. Wenn die anderen, das Regime oder die Opposition, ein Projekt haben, sollen sie es vorlegen und wir können darüber diskutieren.

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