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  • Tarifauseinandersetzung der IG Metall

Auch Blaumänner wollen Zeit für Familie

Alex Wischnewski und Kerstin Wolter erklären, warum die Tarifforderungen der IG Metall auch feministisch sind

  • Alex Wischnewski und Kerstin Wolter
  • Lesedauer: 4 Min.

»Ich habe überhaupt keine Zeit, soviel zu arbeiten«, platzte kürzlich einer Freundin heraus. Familie, Haushalt, Freund*innen, Liebschaften, politische Debatte, Ehrenamt, Weiterbildung, Hobbies - das Leben erfordert einiges von uns und könnte noch viel mehr bieten. Das wissen auch die Mitarbeiter*innen der Metallbranche. Das Ergebnis der großangelegten Befragung der IG Metall zum Thema Arbeitszeit war eindeutig: die Beschäftigten wollen selbstbestimmt weniger arbeiten. Deshalb fordert die Gewerkschaft in den aktuellen Tarifauseinandersetzungen nicht nur eine Lohnerhöhung. Sie fordert die Möglichkeit einer befristeten Arbeitszeitreduzierung auf 28 Stunden pro Woche, inklusive Rückkehrrecht in Vollzeit. Im Falle von Schichtarbeit oder von Kindererziehung und Pflege fordert sie sogar einen Lohnzuschuss durch den Arbeitgeber.

In einer Zeit, in der prekäre Beschäftigungsverhältnisse zunehmen, mag die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung nach purem Luxus klingen. Denn immer mehr Menschen arbeiten ungewollt in Teilzeit oder in schlecht bezahlten Vollzeitjobs. So würde ein Viertel aller Frauen gern ihre Lohnarbeitsstunden erhöhen. Und auch wenn die Löhne in Deutschland im Durchschnitt steigen, sieht die Lohnentwicklung bei der unteren und unteren Mittelschicht mau aus. Seit 2010 nehmen die Einkommen in der unteren Schicht kontinuierlich ab.

Kerstin Wolter und Alex Wischnewski
Kerstin Wolter arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der LINKE-Ko-Vorsitzenden Katja Kipping und hat das Bündnis für den »Frauen*kampftag« am 8. März mitgegründet. Alex Wischnewski engagiert sich im Netzwerk »Care Revolution«.

In der Metallbranche arbeiten hingegen nicht nur die meisten Angestellten in Vollzeit, auch der Durchschnittslohn liegt mit fast 3500 Euro brutto klar über dem gesellschaftlichen Durchschnitt. So ist das Anliegen der IG Metall ist mehr als eine kleine Verbesserung in einer gut organisierten Branche. Es wirft die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Lohnarbeitszeit und der Zeit für andere Lebensbereiche auf. Vor allem Frauen sehen sich in der Zwickmühle, sie sind scheinbar individuell einer Doppelbelastung oder »Teilzeitfalle« ausgesetzt. Dieses Problem wird nun kollektiv angegangen. Es geht damit im Kern nicht nur um eine revolutionäre Forderung, sie ist auch eine zutiefst feministische.

Dass das in der Metallbranche stattfindet, macht es noch interessanter. Denn vor dem inneren Auge tauchen unweigerlich Männer im Blaumann und Schutzhelm auf und keine mit Kinderwagen und Rollstühlen. Tatsache ist, dass nur rund 18 Prozent aller IG-Metall-Mitglieder Frauen sind. Deshalb zeigt der aktuelle Kampf: Der Wunsch nach mehr Zeit für die Familie, ist nicht länger allein ein Anliegen von Frauen. Auch Männer wollen zunehmend mehr Anteil an der Erziehung ihrer Kinder haben oder mehr Zeit für ihre*n Partner*in. Jetzt mögen Männerrechtsorganisationen davon faseln, dass der heutige Mann verlernt hat, ein richtiger Mann zu sein. Vielleicht erleben wir jedoch gerade ein Umdenken, was es bedeutet, ein gutes Leben zu haben.

Die Entwicklung der Produktivkräfte - das heißt der Technik und der menschlichen Fähigkeiten - hat in der Geschichte die Bedingungen dafür geschaffen, dass die Arbeiter*innen den endlosen Arbeitstagen schließlich mit der Durchsetzung des Acht-Stunden-Tages ein Ende setzen konnten. Mit der fortschreitenden Digitalisierung erreichen wir nun eine neue Stufe, die neue Arbeitszeitmodelle in die Diskussion bringt. Wir müssen sie nur erkämpfen. Die IG Metall steht vor den größten Auseinandersetzungen um die Arbeitszeit seit Jahren und damit an einem gesellschaftlich bedeutenden Punkt.

Das weiß auch die Kapitalseite. Ihr Widerstand ist heftig. Rainer Dulger, Gesamtmetall-Präsident, kommentierte die Forderung nach einem Lohnausgleich so: »Mehr Geld fürs Nichtstun wird es mit uns nicht geben.« Dass Dulger die Pflege von Angehörigen oder die Erziehung von Kindern als »Nichtstun« bezeichnet, zeugt nur von seiner eigenen Beschränktheit. Arbeit umfasst nicht nur Lohnarbeit, sondern auch die nicht entlohnte Arbeit am und mit dem Menschen. Feministinnen pochen darauf seit langem. Und: Damit eine Gesellschaft funktioniert, müssen alle in der Lage sein, sich politisch einzumischen. Zeiten wie diese zeugen davon. Zuletzt braucht jeder Mensch Zeit für sich selbst und die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten. Nun kann sich jede*r ausrechnen, dass bei einem Vollzeitjob kaum Zeit für all dies bleibt. Eine radikale Arbeitszeitverkürzung für alle bei entsprechendem Lohnausgleich, verbunden mit der Förderung der öffentlichen sozialen Infrastruktur und der Ausweitung demokratischer Mitbestimmung, ist notwendig für ein gutes Leben für alle.

Auch wenn die Forderungen der IG Metall soweit noch nicht gehen, ihre Kämpfe haben großes Potenzial, über die Metallbranche hinauszuwirken. Was es jetzt braucht, ist Solidarität - auch von Feministinnen.

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