Grammatik der Erdbeben

Heiner Müller: Texte zum Kapitalismus. Eine Anthologie zum Fürchten

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Hyäne war ihm »das Wappentier der Mathematik, sie weiß, dass kein Rest bleiben darf«. Und eine heile Welt galt ihm als das Letzte, »es gibt kein Leben ohne kaputtes Leben. Wenn ich morgens Müsli esse, will ich mich eine Stunde später erschießen. Da trinke ich lieber Benzin zum Frühstück.«

Heiner Müller ließ sich ein Lebenswerk lang zerren vom Konflikt - zwischen Verwesung und Verwesentlichung, zwischen dem Nichtmehr einer untergegangenen Ordnung und dem Langenochnicht einer aufgehenden Welt. Durs Grünbein schrieb über Müller, Aufklärung sei diesem Dichter »eine ununterbrochene Katastrophe« und »die gerechte Güterverteilung ein Streit, der auf Ausrottung hinausläuft«.

Die »Texte zum Kapitalismus«, die dieses Buch unter dem Titel »Für alle reicht es nicht« summiert, streunen durch Müllers Stücke, Gedichte, Essays, Reden und Interviews. Sie offenbaren den grandiosen Forscher der Extreme, der sich nach dem Fall der Mauern gelähmt sah, inmitten geschmeidiger Langweiler, die an großen runden Tischen die Weltformeln des Ausgleichs suchten. Müllers Dialektik dagegen war das Einverständnis mit dem unlösbaren Widerspruch, mit den Verfinsterungen auf allen Seiten, mit der Unbefriedbarkeit von Gewalt links und rechts, oben und unten, bei Revolution und Reaktion. Den Bettelnden Almosen geben? Nein. Gegen den Golfkrieg resolutionieren? Nein. »Die Realität gibt nur nach, wenn man sich gegen sie verbündet.« Aufweichung verhindern. Die Schrecken durchleiden, um die Verzweiflung, die Fluchschar der Kompromisse, immer wieder zum Schwert umzuschmieden. »Der siebenfarbige Hügel/ Gepflügt mit Kugeln mit Leichen bedeckt/ Ist schön wie vor der Schlacht// In den Kriegen die kommen werden/ Erbleichen wird der siebenfarbige Hügel«, schrieb er schon Anfang der sechziger Jahre.

Das Grundwort dieser Texte ist Gewalt. Gegen jede Vernunft - im Dienste der Vernunft. Geschichte? »Stalins Sozialismus in einem Land (...) bedeutete von Anfang an die Kolonisierung der eignen Bevölkerung (...), basierend auf Lenins geografischem Irrtum (der Russland für Europa nahm), dessen Replik Hitlers Genozid war.« Und ganz am Ende ein Kapitalismus, »der sich erfolgreich und staunenswert von seinen vermeintlichen Totengräbern, der Arbeiterklasse, emanzipiert«.

Am 4. November 1989, bei der legendären Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz, hatte Müller provokativ monoton einen Fremdtext vorgelesen: einen Aufruf zu freien Gewerkschaften. Er wurde ausgebuht. Er hatte, da die Massen noch euphorisch demokratieheiß waren, schon andere Sorgen - die der Zukunft, er sah bereits den Westen, von dem an diesem Tag niemand etwas wissen wollte. »Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken. Die Daumenschrauben sollen angezogen werden. Die Preise werden steigen und die Löhne kaum. Wenn Subventionen wegfallen, trifft das vor allem uns. Der Staat fordert Leistung. Bald wird er mit Entlassung drohen. Wir sollen die Karre aus dem Dreck ziehen.«

Fünf Buchkapitel (Kapitalismus und Kapitalismuskritik, Ekel, Sprache, Religion, Krieg) offenbaren, wie Müllers Geist zugreift, wo das Einverständnis möglich ist mit der »Grammatik der Erdbeben«. Diesem Stampfen der Geschichtskräfte gegeneinander. Eine Poesie der traurigen Wahrheit: Glaube an den Fortschritt in der Geschichte war stets ein verhängnisvoller Rückschritt in der Geschichte des Denkens. Konsequenz: Man muss als Dichter Geschichte gegen den Strich bürsten - so zerzausen wir ihr das Fell, finden aber die Flöhe. Brüderlichkeit trägt bezeichnende Klarnamen: Kain und Abel. »Du musst einverstanden sein auch mit der Grausamkeit, damit du sie beschreiben kannst. Es ist sicher ein Problem, worüber man streiten kann: ob Kunst überhaupt human ist. Sie ist es nicht. Sie hat nichts damit zu tun.« Poesie lebt von der Leere, die einschlägt. Es ist die Stunde kurz vor dem Schweigen, das »der Protagonist meiner Zukunft ist«. Wer auf der Gegenschräge warte, das seien die Toten. Die immer das letzte Wort haben. Weil ihre Ewigkeit nicht nur ein Gerücht ist.

Dieser Dichter entriss den Wahrheiten jenen schützenden Schleier aus Moral, der noch die größte Bitterkeit mildert - indem der Körper zwar durchs Blut watet, das Bewusstsein aber unbeirrbar die Ideale predigt. Der deutsche Idealismus. Müller brach nie zu neuen Ufern auf, weil er diese stets schon besiedelt vorfand. Kam er in seiner Dramatik bis Stalingrad, lungerten dort schon die Nibelungen. Landete er zur Zeit der Französischen Revolution in Jamaika, war er doch mitten im Sozialismus: Jede Revolution erzeugt in den Befreiern wohlmeinende - Zerstörer. Die den Zweck der Befreiung schnell aus dem Sinn verlieren. Und Wiederholungsmuster ausbilden. »Wenn die Festung Europa nicht mehr zu halten ist und die Bürgerkriege militante Formen annehmen, wird es einen strukturellen Stalinismus geben.«

Die Texte des 1995 Verstorbenen zu lesen: eine dringliche Empfehlung, durch diese Anthologie befeuert. Es ist Aufenthalt in einer Druckkammer, in die man freiwillig seinen Kopf schiebt, um ihn frei zu bekommen. Frei für ärgste Bedrängung: »Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheiße. Irgendwo werden Leiber geöffnet, damit ich allein sein kann mit meinem Blut. Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn. Mein Gehirn ist eine Narbe. Ich will eine Maschine sein. Arme zu greifen Beine zu gehen kein Schmerz kein Gedanke!«

Kommunismus war diesem Dichter das Höchste. Das große Zu-sich-Finden des Menschen. Aber nicht im Sinne jener kollektiv organisierten Erlösung in sozial befriedeter Gemeinschaft, sondern im Sinne dessen, was jede Selbstwerdung unweigerlich mit sich bringt: Vereinsamung. Wer ganz zu sich kommen darf, wird nie mehr ganz bei den anderen sein. Das bleibt der ewige antikollektive Sprengstoff von Selbst-Verwirklichung. Denn: Kann es das je geben, ein Schlaraffenland einer überbordenden Produktivität, die für jeden genügend abwirft? Wie soll man im Endzustand einer Welt noch selbstreformatorische Kräfte entwickeln? Wie geht das, ein geschichtlicher Abschluss, aber ohne Stillstand? Kants kategorischer Imperativ, ist er am Ende doch nur wieder erfüllbar mit der antreibenden Pistole in der Hand? »Wie soll die Welt enden wenn das Geld müde wird.«

Kommunismus als das Erstrebenswerte, aber doch nicht als das wirklich Lebbare. Dichter sind freilich nicht zuständig fürs Lebbare, sondern fürs Unmögliche, das die Hirn- und Herzkammern sprengt. Müller kommt aus einem Jahrhundert, das nie ein Ende haben wird. Er sagt es unvergessbar in jener harten Poesie, die kommende Zeiten mit den Gespenstern versorgt, denen jede Zukunft gehört. »Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen!«

Heiner Müller: »Für alle reicht es nicht«. Texte zum Kapitalismus. Hrsg. von Helen Müller, Clemens Pornschlegel und Brigitte Maria Mayer. Edition Suhrkamp, 390 S., br., 16,50 €.

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