Eine Frage der Atmosphäre

Berlinale - Der Abschluss, die Bären

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Alles ist eben auch eine Frage der Atmosphäre. Besonders natürlich ein Filmfestival in MeToo-Zeiten. Da will keiner (vor allem kein Mann) einen Fehler machen - sonst steht er plötzlich selbst am Pranger einer Kampagne, die sich offenbar nach den Gesetzen des Grippevirus ausbreitet. Jedenfalls war es unübersehbar, dass Dieter Kosslick (der sich als Direktor seiner achtzehnten und vorletzten Berlinale in philosophischem Gleichmut zurücklehnten könnte) sich von Anfang an unter Rechtfertigungsdruck fühlte. Nein, es würden keine Filme von Regisseuren und mit Schauspielern gezeigt, die sich eines moralischen Fehlverhaltens schuldig gemacht hätten. Mit anderen Worten: denen jemand etwas nachsagt. Wo sind wir eigentlich hingeraten? Michael Haneke hat bereits von einem Klima der »Hexenjagd« gesprochen - Arthur Millers lange für angestaubt geltendes Stück ist der Stoff der Stunde.

Dieter Kosslick dagegen kündigte zu Beginn der Berlinale beflissen an, man werde ausgiebig über MeToo reden. Ich hatte nicht den Eindruck, dass unter Beteiligten oder dem Publikum eine erkennbare Neigung bestand, ausgiebig darüber zu reden. Immerhin sagten dann Heike Makatsch und Iris Berben das einzig Richtige: dass Demokratie das Gegenteil von Meinungsmonopol bedeute. Nun ja, aber wir haben doch die Filme, die Kunst, die spricht doch eine eigene Sprache.

Sieht man von der unterkühlten, auf Eigensicherung der Beteiligten geprägten Atmosphäre ab, in der die Berlinale stattfand, war der diesjährige Wettbewerb einer der stärksten der letzten Jahre. Vor allem auch: endlich wieder starke deutsche Filme, die durch ganz verschiedene Handschriften überraschten. Christian Petzold adaptierte mit »Transit« den Roman von Anna Seghers und verlegte die Handlung ins Marseille von heute. Das ging vielleicht nicht ganz auf, war aber ein filmisch mutiger Ansatz. Bereits hier fiel Franz Rogowski auf, dieser auf intensive Weise mit dem Grad seiner Verschlossenheit spielende Akteur, dem zudem etwas auf hinreißend kluge Weise Proletarisches anhaftet, was auch deshalb beachtlich scheint, weiß man, dass er der Enkel des vormaligen Präsidenten des Bundesverbandes Deutscher Industrie, Michael Rogowski, ist. Seine Figuren: noch in ihrem Schweigen beredt, das Gegenteil aller glatten Schwätzer.

So auch in dem großartigen »In den Gängen« von Thomas Stuber, der bereits mit »Herbert«, einem Film mit Peter Kurth als altem Boxer, auffiel. Eine herbe Poesie zieht sich auch durch seinen neuen Film, der in einem ostdeutschen Einkaufsmarkt unter denen spielt, die man gemeinhin Aufpack-Kräfte oder Lagerarbeiter nennt. Auch hier wieder Franz Rogowski als Christian, der neu ist (ein »Frischling«, wie man ihn hier respektlos anspricht), nicht viel redet, ein Knast-Vorleben hat und es nun mit dem Oberauffüller im Bereich Getränke, Bruno (wieder Peter Kurth) und der »Süßwaren-Fee« (lebenshungrig bis in jede Faser des Körpers: Sandra Hüller) zu tun bekommt.

Nach einem Buch von Clemens Meyer gedreht, ist dies der Blick in den Bauch der Konsumgesellschaft, dorthin, wohin heutzutage keiner mehr schaut. Doch was für Biografien! Bruno und sein Chef (Andreas Leupold), der zur Nachschicht die CD mit Bach »Air« einlegt, bevor er über Lautsprecher »Willkommen in der Nacht« sagt und sich zum Schachspiel zurückzieht - das hat eine Atmosphäre der verschrobenen Verschworenheiten einer kleinen Gruppe derer, die in dieser Gesellschaft der Selbstdarsteller bloß noch als auswechselbare Billigarbeiter wahrgenommen werden - wenn man nicht gleich durch sie hindurchsieht. Sind das gescheiterte Existenzen. Zola hat in seinem Rougon-Macquart-Zyklus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts auf sehr aktuelle Weise gezeigt, was mit einer Gesellschaft passiert, die nicht mehr auf Arbeit, sondern Spekulation basiert: Es herrschen Verfall, menschliches wie moralisches Elend.

Thomas Stuber gibt diesen einfachen Arbeitern ihre Biografien und ihre Würde zurück - samt einer geradezu zärtlichen Annäherung an die Kunst, Gabelstapler zu fahren. Ein wunderbarer Film über Menschen im Schatten des Selbstverwirklichungswahns, die sich jedoch etwas bewahrt haben, das ansonsten längst obsolet scheint: eine schlichte, aber belastbare Solidarität des Umgangs miteinander.

Ungewöhnlich ebenfalls »Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot« von Philip Gröning. Junge Menschen, vor dem Abitur stehend, durchleben einen Sommer der Entscheidung samt Philosophie-Prüfungsvorbereitung - aber unmerklich dringt Heideggers »Der Sinn des Seins ist die Zeit« auch in ihr Leben ein. Und auch »3 Tage in Quiberon« von Emily Atef mit der hinreißenden Marie Bäumer als Romy Schneider, die 1981 in einem französischen Kurort dem »Stern« ein Interview gibt, hatte eine ganze eigene filmische Qualität. Was also will man mehr? Ein Preis wäre schön und auch angemessen gewesen - aber nichts, nicht einmal den kleinsten alle Nebenpreise, den die Berlinalejury unter dem Vorsitz des deutschen Regisseurs Tom Tykwer zu vergeben hatte, bekam einer von ihnen. Findet Tykwer nur seine eigenen Filme gut? Nicht nur ich verstand da die Filmwelt noch weniger als sonst.

Reden wir weiter über gute Filme, die es zu sehen gab, bevor wir zu den Preisen kommen. Der iranische Film »Khook« (»Schwein«) von Mani Haghinghi etwa war ein außergewöhnliches Stück Kino, voller Aberwitz und bodenlosem Ernst. In Iran wird Jagd auch auf kritische Regisseure gemacht, irgendwelche religiösen Fanatiker köpfen die Regisseure und ritzen ihnen das Wort »Schwein« in die Stirn. Das klingt nach Realität, ist aber die Filmhandlung.

Hasan (eigentlich bärenverdächtig: Hasan Majuni), ein Mann um die Fünfzig, ist Regisseur mit Drehverbot und trägt neben einer gekränkten Mine vor allem T-Shirt mit AC/DC und Black Sabbath. Gerade dreht er (das darf er noch) einen exaltierten Werbespot für ein Pestizid, bei dem ein Ballett der Kakerlaken probt, wobei ihm jedoch sein künstlerischer Ehrgeiz durchgeht. Anfangs, als die ersten Regisseure (wenig geschätzte Kollegen) ermordet werden, ist er bestürzt über diesen Wahnsinn, dann empört: Wieso übergeht man ihn, weiß man nicht, wer er ist? Virtuos spiegelt sich der Narzissmus des Künstlers in der Situation der iranischen Gesellschaft heute, die längst über die religiösen Zwänge hinausgewachsen ist, aber nicht recht weiß, wie sie diese, friedlich, abschütteln soll. Auch für »Khook« gab es keinen Preis. »Dowlatow« von Alexej German jr., über einen jungen Dichter mitten in der Breschnew-Ära 1971 bekam immerhin einen silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung, er ging an die Ausstatterin des Films.

Wes Anderson erhielt für den starken Animationsfilm »Isle of Dogs« immerhin den Silbernen Bären für die beste Regie, er war aber gar nicht mehr in Berlin, ihn entgegenzunehmen. Statt seiner tat dies Bill Murray mit dem Satz, er hätte nie gedacht, dass er einmal einen Hund spiele und dafür auch noch einen Bären bekäme. Murray ist ein witziger Typ ohne Internet oder Agenten, der sich für den Filmbetrieb fast unerreichbar macht; Freunde wissen, wie sie ihn erreichen, das spricht für seine Klugheit. Allerdings stimmt es nicht, dass er einen Hund spielt, er leiht nur einem der vielen Hunde in der englischen Fassung seine Stimme.

Den Großen Preis der Jury erhielt der polnische Beitrag »Twarz« von Malgorzata Szumowska, in dem es um eine Großbaustelle im deutsch-polnischen Grenzgebiet geht, um die Aufstellung einer monumentalen Jesus-Skulptur - samt polnischem Konservatismus in all seinen unangenehmen Facetten. Die Silbernen Bären als beste Darsteller erhielten bei den weiblichen Darstellern Ana Brun in »Las herederas« (Regie: Marcello Martinessi) aus Paraguay und Anthony Bajon aus »La prière« (Regie: Cédric Kahn), in dem es um einen drogensüchtigen Jugendlichen geht, der - als letzte Chance - in eine katholische Landgemeinde kommt.

Der internationale Beitrag »Touch Me Not« der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie erhielt nicht nur den Preis für das beste Debüt (was in Ordnung ist), sondern - ganz am Ende der Preiszeremonie - auch den »Goldenen Bären«, was bei vielen zu recht Kopfschütteln verursachte. Jury-Präsident Tom Tykwer hatte nebulös von einem Preis gesprochen, der eine Art Investition in die Zukunft sei, was auch immer das bedeuten mag. Das darf man wohl eine krasse Fehlentscheidung nennen, denn filmisch hat »Touch Me Not« nicht viel zu bieten, außen einem penetranten Therapieansatz, den man - je nachdem - für guten Willen oder gefährlichen Unsinn halten mag. Kurz gesagt: Laura mag nicht gern berührt werden, schon gar nicht an den Genitalien, aber auch sonst nicht. Nun geht sie auf Therapiereise, die ihr diese Scheu austreiben soll. Leider mit Erfolg. Wir sehen onanierende Callboys und SM-Studios, zwischendurch das bedeutungsvolle Gesicht der Regisseurin - nun ja. Und am Ende tanzt Laura zur Freude der Therapeuten einen orgiastischen Nackttanz. Was sie dabei gewonnen und was verloren hat, wird nicht verhandelt.

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