Experimente auf einer intimen Bühne

Goethes »Reineke Fuchs« mit Sylvia Bretschneider im Luzin-Theater Wittenhagen

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Viele Nester der Gegend scheinen tot. Wer einmal hellen Tags durch die Uckermark fährt, der merkt schnell, hier steht die Zeit stille, außer für den Landwirtschafts- und Transportverkehr. Blanke Dächer, intakte Fassaden und tote Straßen. Neben fürstlich sanierten Herren- und Gutshäusern siedelt bei genauerem Hinsehen Verfall. Das Großbauerntum ist längst wieder da und pflanzt für die Spritindustrie. In fast allen Orten keine Kneipe zu sehen, kein Konsum, kein Kulturhaus. Hinter den Türen haust nicht zu knapp Armut und Einsamkeit. Stattdessen ragen nahe dran unzählige Windräder hoch und höher (bis zu 220 Meter, und es werden immer mehr).

Anders am westlichen Rand der Uckermark, in Wittenhagen bei Feldberg inmitten der Mecklenburgischen Seenplatte. Das Gebiet steht unter Naturschutz. Freilich ein Nest, aber eines, in dem man sich wohlfühlen kann. Schon wegen des Breiten und Schmalen Luzins und der Wälder und Aussichten auf den hohen Hügeln ringsum, aber auch eines Kulturhauses, in dem Ausstellungen, Lesungen, Feste stattfinden und ein Theater spielt - das Luzin-Theater.

Es ist noch nicht alt, voriges Jahr begann der Betrieb, beachtet von der regionalen Öffentlichkeit. Selbst der NDR informierte in einem TV-Beitrag. Tollkühn geradezu Sylvia Bretschneider und Alejandro Quintana - das Paar lebt seit Kurzem in Feldberg. Es wagte das Experiment einer intimen Bühne auf dem Land.

Sie, Schauspielerin aus Ostthüringen, er Schauspieler und Regisseur aus Chile, der 1974 vor Pinochet in die DDR geflohen war und dort beste Bedingungen für seine Theaterarbeit vorfand. Er inszenierte anfangs für das Volkstheater Rostock, dann trieb es ihn nach Berlin an das Theater der Freundschaft und ans Berliner Ensemble. In Cottbus kooperierte er eng mit Christoph Schroth und dem Komponisten Rainer Böhm. Nach der Wende inszenierte Quintana als Schauspieldirektor am Theater Heilbronn, wo er seine jetzige Ehefrau Sylvia Bretschneider kennenlernte. Eine couragierte, freundliche, dem Theater restlos ergebene Künstlerin von hohem Talent. An vielen deutschen Bühnen hat sie große Rollen gespielt.

In Feldberg einmal angelangt, wolle sie von hier nicht mehr weg. Ein kleines Theater zu gründen, und sei es abgelegen, sei für sie und ihren Mann fällig geworden, sagt die sympathische 45-Jährige. Das schlösse Abstecher an andere Bühnen nicht aus. Schließlich müsse man leben. Quintana hat zum Beispiel in Rudolstadt Bulgakows »Meister und Margarita« erfolgreich inszeniert. Das Stück ist noch im Plan. Die beiden verlangen keinen Eintritt am heimischen Ort, sondern jeder darf nach Ende der Vorstellung einen Obolus spenden.

Die jüngste Premiere in der Regie des Ehepaares war »Lysistrate« nach Aristophanes. Laien aus der Gegend, Frauen und Mädchen, spielten die Komödie herzerfrischend mit vielen bunten, sexualisierten Überzeichnungen drin. Die Geschichte: Solidarisch in dem Willen, Frieden zu erzwingen, verweigern die alternativ kostümierten Damen ihre Körper den einander bekriegenden Soldaten Athens und Spartas.

Die Attraktion an der jungen Bühne ist indes Goethes »Reineke Fuchs«. Den setzt Sylvia Bretschneider ganz allein in Szene, begleitet von Klängen aus dem Reservoire des verstorbenen Rain Böhm. An die 15 Rollen spielt sie, schlüpft wieselflink von einer Maske in die andere. Oben ragt die goldene Königskrone aus Pappe. Die besteigt sie auf einer Leiter, bekrönt sich und spukt Majestätisches nach unten aus. Das wiederholt sich je anders. Für den Wolf setzt sie sich eine Pelzmütze auf, für den Dachs streift sie einen Schal um. Auf dem roten Ball tippelt sie wie eine flinkes Mädchen aus dem Circus.

Der Text geht ihr über 70 Minuten fehlerlos von der Zunge. Einen fabulösen Gestenreichtum erlebt der Zuschauer. Tiere zu vermenschlichen, ist hier hohe Kunst und Wegweiser, zu erkennen den Lug und Trug derer, die die Wirklichkeit ruinieren. Die Fabel vom »Reineke« ist so vergnüglich wie hochpolitisch. Da schleicht ein Fuchs über die abgründigsten Intrigen und heuchlerischsten Winseleien bis zum Minister des Königs hoch. Glänzend in allem hier Sylvia Bretschneider. Große Schauspielkunst an kleinem Ort.

Nächste Vorstellungen am 31.3., 21.4. und 20.5. im Luzin-Theater, Zansen᠆weg 4, Wittenhagen bei Feldberg.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das beste Mittel gegen Fake-News und rechte Propaganda: Journalismus von links!

In einer Zeit, in der soziale Medien und Konzernmedien die Informationslandschaft dominieren, rechte Hassprediger und Fake-News versuchen Parallelrealitäten zu etablieren, wird unabhängiger und kritischer Journalismus immer wichtiger.

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

Unterstützen über:
  • PayPal