Als der Göltzschtalmüller einen Riesen zum Nachbarn bekam

Sachsen: Andreas Ketzel begrüßt im Vogtland jedes Jahr Tausende Neugierige an der weltgrößten Ziegelsteinbrücke

  • Steffi Schweizer, Netzschkau
  • Lesedauer: 3 Min.

Während damals, vor 170 Jahren, in Berlin, Sachsen und Wien die 1848er Revolutionäre auf die Barrikaden gingen, fand in den Wäldern des Vogtlandes am Flüsschen Göltzsch ein anderer Kampf statt. Eben noch verspottet und verlacht, bewiesen die Bauherren eines gigantischen Ingenieurbauwerks, dass ihr Plan doch funktioniert. Damals nahm die größte Ziegelsteinbrücke der Welt nach Pleiten, Pech und Pannen ihre heute bekannte Gestalt an.

Andreas Ketzel, gelernter Müller, lebt seit 67 Jahren in Nachbarschaft der Brücke. Er führt jedes Jahr Tausende Interessierte durch seine kleine Ausstellung im Mühlengebäude. Wenn sich die Strahlen der tief stehenden Sonne in den anmutigen Brückenbögen verfangen, kann er noch immer staunen. Der Mann, der sein ganzes Leben im »Schatten« der Brücke verbracht hat, wird nicht müde, von ihr zu schwärmen: »Ein einmaliges Bauwerk, das von seiner Faszination nichts verliert,« sagt er.

Müller wollte er werden, so wie seine Vorfahren. »F. A. Ketzel« steht weithin sichtbar an den roten Mauern - es sind die Initialen von Ururgroßvater Friedrich August Ketzel. Sein Porträt hängt in der Ausstellung. Wer genau hinschaut, erkennt die Ähnlichkeit mit dem heutigen Hausherren, der mit Leidenschaft erzählt: von der Getreidemühle, die weißes Mehl zu mahlen vermochte und daher Kunstmühle genannt wurde - und von der Geschichte der Brücke. Beide sind untrennbar miteinander verbunden.

Die Mühle war zuerst da. In alten Urkunden steht das Jahr 1464. Mehrere Male brannte sie ab und wurde wiederaufgebaut. 1842 kam sie in den Besitz der Ketzels. Schon drei Jahre später wurden rund um die Mühle Waldstücke gerodet, Wege angelegt und Schuppen gebaut - kurzum: Baufreiheit geschaffen. Sogar die Göltzsch wurde in ein neues Bett umgeleitet. Am 31. Mai 1846 startete der eigentliche Brückenbau.

Zu dieser Zeit boomte die Wirtschaft, der nationale Handel befand sich in ungeahntem Aufwind. Um aber vom Messeplatz Leipzig und den Ballungszentren der Textil- und Kohleindustrie um Zwickau, Plauen und Reichenbach nach Bayern zu gelangen, musste das Tal der Göltzsch überwunden werden: ein strategisches Nadelöhr von 80 Metern Tiefe und 700 Metern Breite. Brücken solchen Ausmaßes kannte man nicht. In Deutschland gab es zu dieser Zeit zunächst weder ausreichend Zement noch genügend Stahl. Ein Abenteuer begann: Zunächst leitete man den Fluss in ein neues Bett. Damit verlor die Mühle ihren Antrieb und schlitterte fast in den Ruin.

Aber das gigantische Ingenieurbauwerk zog Tausende Arbeiter an. Ketzel erwarb Schankrechte und sicherte so sein Überleben. Als die Züge rollten und die rasant wachsende Bevölkerung Brot und Mehl brauchte, entwickelte sich die Mühle zu einer der größten im Vogtland. Gute Jahre.

Als Andreas Ketzel 1972 seine Müllerlehre beendet hatte, war sie bereits verstaatlicht. Erst 1993 erfolgte die Rückübertragung durch Kauf. Ketzel und seine Frau Hellgrid legten die Mühle still und arrangierten die Ausstellung. Bis zu 5000 Besucher kamen bisher jedes Jahr.

Wer die Geschichte der Mühle am Fuße der Brücke hören will, den führen die Ketzels gern durch das Gebäude. Reguläre Öffnungszeiten gibt es allerdings nicht. Wer sichergehen will, sollte vorher bei Ketzels in Netzschkau, Brückenstraße 6b, unter 0152-34561834 anrufen.

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