Auf den Schultern Richard Wagners

»Mein Staat als Freund und Geliebte« von Johannes Kreidler an der Oper Halle uraufgeführt

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 4 Min.

Auch in seinem zweiten Jahr als Intendant in Halle liefert Florian Lutz, was er versprochen hat: die jährliche Uraufführung eines Auftragswerkes. Und das ist - unabhängig vom Resultat - gut so. Mit der Dschihad-Oper »Sacrifice« von Sarah Nemtsov, die er in der vorigen Spielzeit selbst in der Raumbühne Heterotopia inszeniert hat, liegt die Messlatte allerdings ziemlich hoch. Ein brandaktuelles Thema, eine aufwühlend packende und durch ihre Radikalität verstörende Musik und eine adäquate Inszenierung brachten ein Gesamtkunstwerk auf die Bühne, dem niemand ausweichen konnte. Oper als Faustschlag in die Magengrube. Johannes Kreidlers 90-Minuten-Collage unter dem viel versprechenden Titel »Mein Staat als Freund und Geliebte« liefert dazu einen Gegenentwurf. Und das nicht, weil er »nur« collagiert, sondern weil er nicht wirklich in Tiefe geht oder verstört.

Und doch verlassen beim gesprochenen Schlussmonolog etliche Zuschauer den Saal. In dem Monolog geht es weder ums Thema noch um irgend etwas Provozierendes. Da redet der Pianist, Schauspieler und Performer Stefan Paul einfach nur über Rituale in der Oper. Genauer: über den (Un-)Sinn von Applaus. Auch wenn man seine These nicht teilt, dass unmittelbar nach einer Vorstellung eigentlich nicht applaudiert oder Missfallen bekundet werden sollte, war das immerhin interessant. Es war wohl schlicht die Form eines ernsthaft entwickelten Gedankens, der provozierte und etliche Zuschauer aus dem Saal vertrieb. Das passte wiederum - hübsch dialektisch - zu seinen Ausführungen. Kreidler hielt sich (als Regisseur) an seine These (als Autor), dämmte zum Schluss einfach das Licht auf der Bühne weg und ließ niemanden vor den (nicht vorhandenen) Vorhang.

Dabei hätten gerade der Dirigent Christopher Sprenger und die Staatskapelle für die Beherrschung der permanenten Wechsel zwischen den höchst unterschiedlichen musikalischen Schnipseln der collagierten Musik und der von Rustam Samedov exzellent sowohl in seinem Wagner- wie in seinem skandierenden Sprechduktus einstudierte und mit einer eigenen Spielchoreographie aufgewertete Chor (plus Extrachor) jeden Beifall verdient. Ebenso das Ballett, dem der Tänzer Dalier Burchanov eine Choreografie verpasst hat, die Lust auf mehr macht.

Tenor Christian Voigt, der u.a. seine Tristan-Häppchen standfest beisteuerte, konnte wenigstens einen spontanen Szenenapplaus verbuchen, als er den Mackie-Messer Song zur Melodie des Deutschlandliedes und dessen Text zur Musik von Weill über die Rampe schmetterte. Das funktionierte und gehörte tatsächlich auch irgendwie zum Thema. Denn, dass Individuen bzw. Bürger den Staat gerne auch als eine Art fürsorgliches Über-Ich betrachten oder eben als Freund, ja Geliebte sehen, also vor allem Wünsche und Forderungen in ihn projizieren, ist ja durchaus ein interessanter Gegenstand, den zu hinterfrage sich lohnt.

Aber einfach in den vorgefundenen, zerstückelten und neu zusammengesetzten Bruchstücken aus Filmschmonzetten (Abteilung: Liebe, Western, Heimat, Sandale) und Opern (Tristan, Lohengrin, Parsifal) einen der Partner im Duett nicht mit seinem Namen, sondern einfach als Staat anzusprechen, das hat nur einen begrenzten Witz. Und noch weniger Erkenntniswert. So bleibt der Abend vor allem ein Spiel mit der Oberfläche.

Wenn Kreidler auf die Schultern von Wagner klettert, dann steigt der Unterhaltungswert dagegen deutlich. Wenn Stefan Paul von 1 bis 150 zählt, um dann zu erklären, dass das die Zahl der Menschen ist, die man persönlich kennen kann, wird man sich das merken, vielleicht sogar überprüfen. Die Bühne von Christoph Ernst ist großräumig offen und weiß ausgeschlagen. Das Schrankwand-Dekor fürs TV, in dem der Regierungssprecher und die Kanzlerin mit Oslo-Dekolleté auftauchen und die Kinoleinwand für diverse Filmschnipsel, samt Laufsteg über den Graben - passen. Der Satz aus Hamlet »Mehr Inhalt, weniger Kunst« kommt nicht vor. Könnte er aber und bekäme dafür Szenenapplaus.

Insgesamt bleibt der Eindruck des Abends zwiespältig. Immerhin »muss« man diesmal nicht mal klatschen. Man sollte aber auch nicht vorzeitig gehen.

Weitere Aufführungen: 6., 12., 26., 30. Mai, 16. und 22. Juni. www.buehnen-halle.de

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