Nach einer wahren Begebenheit
Das Schauspiel als moralische Anstalt und der Trend zum Authentischen: Am Freitag startet das 55. Theatertreffen
Wer im Theaterbetrieb etwas auf sich hält, der muss von irgendwas oder irgendwem genervt sein. Das gehört zur Grundausstattung aller sich bedeutungsvoll gebenden Kulturmenschen wie die Keule zum Neandertaler. Michael Thalheimer zählt zu den besonders bedeutungsvollen Regisseuren der deutschsprachigen Bühnenkunst. Natürlich ist auch er genervt. Und wie: Im Dezember 2015 klagte Thalheimer im »Wiesbadener Kurier« über Schauspielhäuser, die Aufgaben übernehmen, für die sich jede halbwegs funktionierende Gesellschaft einen Staat hält. »Wenn neue Intendanten ihr Programm vorstellen«, sagte er, »habe ich häufig den Eindruck, dass Amnesty International, die Obdachlosenhilfe und das Flüchtlingshilfswerk einen gemeinsamen Zukunftsort kreiert haben. Was aber komplett vergessen wird: Es handelt sich um Theater.«
Nun wird Thalheimer um den Doppelcharakter des politischen Theaters wissen. Oft lassen sich die »drängenden Probleme unserer Zeit«, derer sich die Spielplangestalter so gern annehmen, erst auf der Bühne sinnlich fassbar verhandeln. Der Leitartikel eines staatstragenden Chefredakteurs kann da ebenso wenig mithalten wie der 500-seitige Theorieschinken einer renommierten Philosophieprofessorin. Im besten Fall begreifen Kritik und Publikum, was da gespielt wird - und das jeweilige Thema erhält eine Öffentlichkeit, die manch verantwortlicher Politiker eigentlich vermeiden will. Andererseits - da hat Thalheimer recht - ist es bequem, als Theatermacher in Sonntagsreden rund um eine tugendreiche Inszenierung die Rolle des Guten einzunehmen, weil dem Bühnengeschehen keine Konsequenzen im realen Leben folgen.
Die angesagten Leute auf den Regiestühlen der deutschsprachigen Länder suchen seit einiger Zeit nach Wegen, dieses Dilemma aufzulösen. Da verwundert es nicht, dass Thalheimer nicht eingeladen ist zum 55. Berliner Theatertreffen, das an diesem Freitag startet. Noch weniger verwundert es, dass fast alle der zehn auf dem Tableau auftauchenden Inszenierungen dem allgemeinen Trend zum Moralischen folgen, um über die Form des Dokumentarischen zum Authentischen zu gelangen.
Im Grunde fällt nur eine Produktion eklatant aus der Reihe. Im Frühjahr 2017 brachte Frank Castorf seine Abschiedsinszenierung in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz auf die Bühne. Sein siebenstündiger »Faust« ist ein das Publikum wieder einmal famos überfordernder Fiebertraum, der das Theater als das feiert, was es seiner Bestimmung nach mit politischem wie nicht politischem Anstrich immer sein muss: ein magischer Übungsplatz für Gemeinsamkeiten und zugleich ein befreiender Ausbruchsraum für Emotionen, Ängste, Phantasien, Sehnsüchte.
Die übrigen neun Einladungen zeigen, wie es die Theatertreffen-Leiterin Yvonne Büdenhölzer im postmodernen Kulturbusinessdeutsch formuliert hat, »entschiedene Perspektiven auf unsere komplexe Gegenwart«. Da wäre zum einen der Versuch, dokumentarisch jenen das Wort zu erteilen, die in der bestehenden Gesellschaft von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffen sind.
In »Die Welt im Rücken« zaubert Joachim Meyerhoff eine dreistündige One-Man-Show aufs Parkett, in der er die manisch-depressive Erkrankung des Autors Thomas Melle so verkörpert, als befände sich das Publikum in einer Therapiesitzung. Mit blutendem Gesicht stürmt er über die Rampe, pöbelt in die erste Zuschauerreihe hinein, klappert alles Greifbare auf versteckte Botschaften ab. Anders verfährt Regisseur Thomas Ostermeier mit Didier Eribons autobiografischem Sachbuch »Rückkehr nach Reims«, in dem der Soziologe seine Herkunft aus der Unterklasse mit einer grundlegenden Kritik an den Linken in Frankreich verbindet. Ostermeiers Zugriff verläuft über die Schauspielerin Nina Hoss, die ihren privilegierten Hintergrund mit dem des Autors abgleicht.
»Mittelreich« von Josef Bierbichler war in einer Version der Münchner Kammerspiele bereits vor zwei Jahren eingeladen. Jetzt ist es dem Theater gelungen, mit einer weiteren Fassung des bayerischen Heimatromans erneut nach Berlin reisen zu dürfen. Der Clou: Diesmal besteht der Cast, wie die offizielle Pressemitteilung es ausdrückt, »ausschließlich aus Schauspieler*innen of Color«.
Ein weiterer Block an Inszenierungen aktualisiert Klassiker der Dramengeschichte und deutet sie so, dass sie zur jüngsten Zeitgeschichte passen. »BEUTE FRAUEN KRIEG« erzählt auf der Grundlage der »Troerinnen« nach Euripides den Trojanischen Krieg aus der Perspektive der unter ihm leidenden Frauen. Ein gewalttätiger Vater als Symbol des Patriarchats steht in »Die Odyssee« nach Homer im Kreuzfeuer. Brechts »Trommeln in der Nacht« ist als Zeitreise in mehreren Optionen zu sehen: Einmal entscheidet sich der Kriegsheimkehrer Andreas Kragler (wie im Original) für die Liebe und einmal für die Revolution. Zu Büchners »Woyzeck« wiederum hat Ulrich Rasche eines seiner wuchtigen Bühnenbilder gebaut, um das Hamsterrad der beschleunigten Konformitätsgesellschaft einzufangen.
Zwei Uraufführungen komplettieren diesen Sturm und Drang nach Authentizität. Falk Richter führte Regie bei Elfriede Jelineks »Am Königsweg«, das als Satire auf Testosterontypen wie Putin, Trump und Orbán angelegt ist. »Nationaltheater Reinickendorf« von Vegard Vinge und Ida Müller, das aus Termingründen leider nicht beim Theatertreffen zu sehen ist, findet das Leben, das Universum und den ganzen Rest gleich so schlecht, dass es sich eine neue Welt schafft.
Schon seit der Jahrtausendwende gilt die Trennung von Theater und Alltagswelt im deutschsprachigen Raum manchem als nicht mehr zeitgemäß. Jüngere Autorinnen und Regisseure interessieren sich stärker als vorherige Generationen für die Verbindung von moralischer Haltung und freier Kunst. Darüber ist dem Schauspiel die Lust am Lügen abhandengekommen. Viele seiner führenden Vertreter meinen, die Wahrhaftigkeit der Bühne bestehe darin, dass die darauf erzählten Geschichten auf wahren Begebenheiten beruhen. »Es ist«, so beschreibt es der Dramaturg Bernd Stegemann in seinem Buch »Kritik des Theaters«, »als würden sie die ganze Zeit über sagen wollen: Ja, wir wissen, dass wir hier oben stehen und Quatsch machen, und wir wissen, dass ihr euch das anschaut und denkt, was machen die denn da für einen Quatsch.«
Theatertreffen: 4. bis 21. Mai
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