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»Das Kapitel NSU ist nicht abgeschlossen«

Die thüringische Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss über den NSU-Komplex und die Rolle der Behörden

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Urteile im NSU-Verfahren sind gefallen. Was ist Ihre Bewertung?

Am Mittwoch ist nur ein kleiner Teil des NSU-Terrornetzwerkes für den mehr als ein Jahrzehnt andauernden rassistischen Terror verurteilt worden. Die Anklage weiterer Unterstützerinnen und Unterstützer muss zügig folgen. Wirklich konsequent die Verantwortung zu übernehmen und alle Schuldigen zu benennen ist zudem etwas anderes als zum Teil auch noch lächerlich geringe Strafen wie im Fall von Ralf Wohlleben zu verhängen. Diese Verantwortungsübernahme steht immer noch aus.

Katharina König-Preuss

Katharina König-Preuss ist Vertreterin der Linksfraktion im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss. Darüber hinaus ist sie auch Fraktionssprecherin für Antifaschismus. Nach eigener Aussage stand König-Preuss bereits als Jugendliche in den 1990er Jahren in Jena Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gegenüber. Mit der Abgeordneten sprach Sebastian Bähr. Foto: dpa/Bernd Settnik

Das Kapitel NSU ist damit nicht abgeschlossen?

Das Kapitel NSU ist definitiv nicht abgeschlossen und es darf auch nicht abgeschlossen sein. Wenn man mit dem Prozessende auch ein Ende der Aufklärung des NSU-Komplexes verbindet, würde das bedeuten, dass mögliche Mittäter ungestraft davonkommen. Und das betrifft nicht nur Neonazis. Auch Sicherheitsbehörden haben durch Nichtagieren, durch Verschleiern und durch Vertuschen zu den Morden beigetragen.

Konnte der Prozess den NSU-Komplex aufklären?

Die Nebenklage-Anwälte haben durch mehrere Beweisanträge versucht, das Unterstützernetzwerk und die Verwicklung der Sicherheitsbehörden zu thematisieren. Allerdings ist ein Großteil der Beweisanträge abgelehnt worden. Das Gericht hatte sich auf die These der Anklageschrift gestützt: nach dieser bestand der NSU aus drei Personen und vier haben ihm geholfen. Im Laufe der vergangenen fünf Jahre ist dabei deutlich geworden, dass es weitaus mehr Unterstützer gegeben hat.

Von wie vielen Unterstützern gehen Sie bundesweit aus?

Ich würde von 100 bis 200 Personen ausgehen. Deren Hilfe umfasst beispielsweise finanzielle Unterstützung am Anfang des Untertauchens. Aber da sind definitiv auch Personen dabei, die die Drei in der späteren Zeit unterstützt haben, möglicherweise sogar bei der Auswahl der Tatorte und der Opfer.

Wie erklären Sie sich, dass die Bundesanwaltschaft trotz zahlreicher Indizien für ein Netzwerk an der These des Trios festhielt?

Die einzige Erklärung, die ich habe, ist, dass man den Prozess nur an der Anklageschrift ausgerichtet hat, welche von einem isolierten Terrortrio, das von wenigen Personen Unterstützung erhielt, ausgeht. Zumindest die fünf Personen, die man vor Gericht stellen konnte, wollte man wohl rechtssicher verurteilen. Dass man darüber die entscheidenden Fragen – auch die der Angehörigen - ignoriert, hatte bei der Formulierung der Anklageschrift 2012/13 keine Rolle gespielt.

Wie bewerten Sie das Verhalten der Sicherheitsbehörden im Prozess?

Angela Merkel hatte 2012 versprochen, dass es eine Aufklärung geben wird und dass diese transparent und umfassend ist. Genau das haben die Sicherheitsbehörden - zuallererst der Verfassungsschutz der Länder wie auch des Bundes - hintertrieben. Sie haben verhindert, dass es eine umfassende Aufklärung geben kann.

Handelte es sich um Sabotage?

Ich würde es als Sabotage der Aufklärung bezeichnen. Das Interesse der Sicherheitsbehörden wurde vor das Interesse der gesellschaftlichen Aufklärung gestellt. Niemand griff ein, um das zu verhindern.

Ging es dem Verfassungsschutz nur um seinen Quellenschutz, also die Sicherheit der V-Leute?

Es wird nach außen immer verbreitet, dass es nur um den Quellenschutz geht. Es ist auch definitiv so, dass Verfassungsschutzbehörden den Quellenschutz vor den Opferschutz stellen. Allerdings ist das für mich kein ausreichendes Argument, um die Aufklärung so massiv zu verhindern. An der Stelle können wir alle nur spekulieren, was die weiteren Gründe sein könnten. Möglicherweise wussten die Behörden mehr, als über die bisherigen Akten bekannt ist, möglicherweise hatten sie bisher unbekannte Informationen zum Untertauchen des NSU, zu seinem Aufenthalt, zu seinen Unterstützern.

Von wie vielen V-Leuten im Umfeld des NSU kann man grob ausgehen?

Aus den Untersuchungsausschüssen, durch investigative Journalisten und antifaschistische Gruppen ist das Ausmaß der V-Leute im NSU-Komplex offensichtlich geworden. Zwischen 35 bis 45 V-Leute agierten im Umfeld oder gar direkt am Kerntrio des NSU. Eingeschlossen ist bei der Rechnung sowohl die Zeit vor dem Untertauchen als auch im Untergrund.

Bei den Ungereimtheiten kommt einem der Ex-Verfassungsschützer Andreas Temme in den Kopf. Er war im selben Café, als Halit Yozgat vom NSU erschossen wurde, doch gesehen haben will er nichts. Haben Sie weitere Beispiele?

Temme ist das offensichtlichste Beispiel. Man kann aber sagen: alle Verfassungsschützer, und zwar sowohl im Prozess als auch in den Untersuchungsausschüssen, haben sich entweder bewusst nicht erinnert, oder gelogen, oder verschleiert. Nie ist es hier zu einer Anklage oder Konsequenzen gekommen. Den Sicherheitsbehörden wurde das Signal gegeben: euch wird nichts passieren.

Hatte die Bundesanwaltschaft Angst, sich mit den Behörden anzulegen?

Der Fokus der Bundesanwaltschaft lag auf der Verurteilung der fünf Angeklagten. Alles, was darüber hinaus ging, war einfach nicht in ihrem Interesse.

Gab es überhaupt die Möglichkeit, die Rolle des Verfassungsschutzes aufzuarbeiten?

Ja, die gab es definitiv. Es gab sogar einen Zeitraum, in dem es möglich gewesen wäre, den Verfassungsschutz abzuschaffen. Ungefähr von November 2011 bis April 2012 fanden große zivilgesellschaftliche Proteste statt. Es gab Demonstrationen, in Thüringen wurde kurzzeitig das Landesamt für Verfassungsschutz besetzt. Danach schwächte der Protest aber wieder ab. Irgendwann war es kein Skandal mehr, wenn der nächste V-Mann aufgeflogen war oder man erfuhr, dass vor Gericht gelogen wurde. Ein Großteil der Gesellschaft hatte sich damit abgefunden, dass der Verfassungsschutz beim NSU-Komplex seine Hände mit im Spiel hatte.

Welche Rolle spielte die Nebenklage für die Aufarbeitung?

Ohne die Nebenklage hätte es viele Fragen, die den Angehörigen wichtig sind, im Prozess gar nicht gegeben. Die Nebenklage hat in dieser Hinsicht eine Wahnsinnsarbeit geleistet, auch wenn ihre Beweisanträge immer wieder zurückgewiesen wurden. Den Angehörigen, die im Prozess gesprochen hatten, wurde auch intensiv zugehört. Das führte jedoch nicht dazu, dass ihre Worte im weiteren Verlauf noch eine Rolle gespielt hätten. Auf einer emotionalen Ebene nahm man sie wahr, Konsequenzen wurden jedoch unterbunden.

Sie standen schon in Ihrer Jugendzeit in Thüringen Beate Zschäpe gegenüber. Zum Schluss des Verfahrens hatte die Angeklagte behauptet, sich von den NSU-Verbrechen zu distanzieren. Wie wirkte das auf Sie?

Für mich war das keine Distanzierung - und alle, die ihr das abgenommen haben, fallen auf sie herein. Wenn man ihre Worte in eine Ideologie der extrem rechten Szene einordnet, hatte sie am Ende

nichts anderes gesagt als »meine Ehre heißt Treue«. Sie hat null dazu beigetragen, in irgendeiner Form die Aufklärung voranzutreiben oder den Angehörigen Respekt zu erweisen, indem sie ihnen zumindest Teile ihrer Fragen beantwortet.

Angesichts der weiterhin offenen Fragen: Würde ein dritter NSU-Untersuchungsausschuss auf Bundesebene Sinn machen?

Erstmal würde ich dem zweiten Bundesuntersuchungsausschuss den Vorwurf machen, dass er weitestgehend versagt hat. In großen Teilen hat er nur das wiederholt, was in anderen Landesuntersuchungsausschüssen bereits aufgearbeitet wurde. Beispielsweise kommen Landesuntersuchungsausschüsse nicht an die V-Mann-Akten vom Bundesamt für Verfassungsschutz ran oder an Informationen des Militärischen Abschirmdienstes beziehungsweise des Bundesnachrichtendienstes. Das wäre die Aufgabe vom Bundestagsuntersuchungsausschuss gewesen. Er hatte sich aber hauptsächlich mit bereits bekannten Ereignissen rund um den 4.11.2011 beziehungsweise den Verbindungen zwischen Neonazis und organisierter Kriminalität beschäftigt.

Wann hätte ein neuer Anlauf Sinn?

Ein neuer Anlauf hätte nur dann Sinn, wenn im Ausschuss Abgeordnete sitzen, die sich ohne Rücksicht auf Verluste engagiert dem Thema widmen. Das sehe ich momentan ehrlich gesagt nur bei der Linksfraktion. Ohne die richtigen Leute und ohne den gesellschaftlichen Druck bringt auch ein Bundesuntersuchungsausschuss Nr. 3 nichts.

Welche Rückschlüsse müssen Antifaschisten aus dem NSU-Komplex ziehen?

Die erste Konsequenz ist, dass man Sicherheitsbehörden nicht vertraut. Jede Aktivität von ihnen ist zu hinterfragen. Die zweite Konsequenz heißt anzuerkennen, dass wir als antifaschistische, antirassistische Bewegung bezüglich der NSU-Morde komplett versagt haben. Daraus muss folgen, dass wir uns öffnen und die Zusammenarbeit mit migrantischen Gruppen und People of Colour suchen. Dafür ist es notwendig, dass wir von unserem elitären weißen Ross herunterkommen und uns selbst sowie unsere Strukturen hinterfragen. Das ist bis heute nur in Teilen der Linken der Fall. Die dritte Konsequenz: Antifaschismus bleibt weiterhin notwendig, wir dürfen angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht einknicken.

Aus diesen Verhältnissen ging nicht nur der NSU, sondern in jüngerer Zeit etwa auch die Gruppe Freital hervor. Welche Gefahr geht derzeit von neonazistischen Terroristen aus?

Für mich ist der NSU nicht vorbei. Welchen Namen er jetzt trägt, spielt für mich nur eine nachgeordnete Rolle. Das, was der NSU getan hat, machen jetzt andere Gruppen und Einzelpersonen, haben andere vor ihm gemacht, werden andere nach ihm machen. Was die Gesellschaft wissen muss: Neonazis sagen nicht nur, dass sie vorhaben, Menschen umzubringen - sie handeln auch so. Scheinbar werden ihre Worte aber nur bedingt ernst genommen.

Auch die AfD spricht mittlerweile offen davon, Migranten zu »entsorgen« und Politiker zu »jagen«.

Die AfD ist für mich der parlamentarische Arm von militanten Neonazis. Sie kritisch zu beobachten reicht nicht – wir müssen sie bekämpfen.

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