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Vom Tod ins Leben

Merkwürdiger Vater und bekiffter Kater: Thomas Hürlimanns furioser Schelmenroman «Heimkehr»

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Gewiss - einige zeitspezifische Referenzen gibt es im neuen Roman von Thomas Hürlimann: der Herbst ’89, das Geburtsjahr 1950 des Erzählers, sein unambitioniertes Studium in Zürich während der 70er Jahre. Nur - erklärt ist damit gar nichts. Denn dieser allwissende Erzähler ist beileibe kein unzuverlässiger Erzähler, sondern versiert, reflektiert und auch humoristisch. Thomas Hürlimann versucht schier alles, fällt sich dabei ständig selbst ins Wort, verheddert sich und setzt wieder neu an.

• Thomas Hürlimann: Heimkehr. Roman.
S. Fischer Verlag, 528 S., geb., 25 €

Was ist bloß was? Und wie ist die Geschichte nun wirklich abgelaufen: die Sache mit dem Autounfall auf eisiger Brücke, die anschließende Amnesie des Erzählers, sein Aufwachen am sizilianischen Strand? Was ist Heinrich Übel jun., dem Spross eines schweizerischen Gummimagnaten (Keilriemen, Unterlagen für Wickeltische, rutschfeste Einlagen für Badewannen), an jenem Weihnachtsabend zugestoßen? Als er seinen Vater nach 18-jähriger Trennung und 40 Semestern als Gasthörer «ohne Matura» an der Zürcher Universität wiedersehen möchte und einen Unfall erleidet? War’s vor dem Besuch oder hinterher? Was ist geschehen? Und welche Rolle spielen dabei die verschiedenen Frauen, die Ehefrau des Vaters, seine Sekretärin, die Muse und Prostituierte Cala?

Thomas Hürlimann hat einen fulminanten Schelmenroman geschrieben, der Anleihen bei den Großen (Jean Paul oder Lawrence Sterne) nimmt und in bester Tradition von Albert Vigoleis Thelen und Günter Grass und - jüngst erst - Ingo Schulze («Peter Holtz», 2017) steht. Sein Erzähler versucht sich - vergeblich - an der Rekonstruktion einer Unfallgeschichte abzuarbeiten, setzt einzelne Elemente zusammen, um danach dieses Puzzle wieder souverän zu zerstören und auf Ab- und Irrwege zu kommen. So führt er den Leser an der Nase herum, schafft einen ebenso lockeren wie dichten Erzählrahmen, an dessen Ende nichts aufgelöst wird, der Erzähler (vielleicht) tot ist und vom überhimmlischen Ort aus seinen Fall - seine ganze bisherige Biografie - aufschreibt. An seiner Seite der bekiffte Kater Dada. «Der bis unter die Hirnrinde bekiffte Kater dachte nicht daran, den Stiefel vom Gaspedal zu nehmen, gierig sog er am Joint, sein Blick wurde glasig, an der Scheibe zerspritzten Falter und Käfer und Fliegen, ein blutiges Schneegestöber, in das wir blind hineinschossen. »Wo fliegen wir hin, alter Knabe?« - »Auf die andere Seite, Herr Doktor, vom Tod ins Leben!« Schluss. Aus. Ende. Oder vielmehr total reset.

Hürlimanns Picaro-Roman bietet ein großes Lesevergnügen - jedenfalls für all diejenigen, die noch Spaß an den phantastischen Möglichkeiten von Literatur und Sprache haben. Mit einem Augenzwinkern verneigt sich der Ich-Erzähler vor Jean Pauls Luftschiffer Giannozzo, wenn er bereits in der Mitte der Geschichte eine »erhabene Position« einnimmt: »Ich stieg mit dem Wagen, den Atem anhaltend, in die Senkrechte, dann rasselte das Brückengeländer wie eine Bahnschranke nieder und fand samt der Piste in die richtige Lage zurück, in die gewohnte Ordnung, in die gültige Geografie. Ich aber, zu einem göttlichen Auge geworden, sah vom Himmelsgewölbe herab zu, wie tief unter mir ein spielzeugkleines Auto auf einer langen schmalen schnurgeraden Brücke weitertorkelte, wie es von den Rädern aufs Dach und dann auf die Seite schlug, wobei mein Körper, den ich aus guten Gründen verlassen hatte, in embryonaler Krümmung und zeitlupen-haft langsam durch die enge Wagenkabine segelte.«

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