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Hütet euch vor Betrügern!

Andrea Komlosy über Grenzen und Grenzenlosigkeit

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor gut 250 Jahren hat ein französischer Aufklärer, Jean Jaques Rousseau, ebenso analytische wie prophetisch-revolutionäre Gedanken zu Papier gebracht: «Der erste, der ein Stück Land mit einem Zaun umgab und auf den Gedanken kam zu sagen: ›Dies gehört mir‹, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der eigentliche Begründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Elend und Schrecken wäre dem Menschengeschlecht erspart geblieben, wenn jemand die Pfähle ausgerissen und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ›Hütet euch, dem Betrüger Glauben zu schenken; ihr seid verloren, ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass zwar die Früchte allen, aber die Erde niemandem gehört‹.» Ja, Grenzen konstituieren und zerstören die Gesellschaft und ihre staatliche wie sozialökonomische Daseinsweise.

Andrea Komlosy: Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf.
Promedia, 248 S. br., 19,90 €.

Die Wiener Globalhistorikerin Andrea Komlosy ruft nicht diesen Zeugen an, sondern sucht eher beim Soziologen Georg Simmel Rat. Sie weiß um die konservativen wie revolutionären Elemente im Streit um «Grenzen» von Staaten und Gesellschaften. Es verwundert nicht, dass die Autorin in der Vergangenheit reichlich fündig geworden ist, um zu zeigen, wie Grenzen Instrumente sozialer Verhältnisse werden und offenbar etwas damit zu tun haben, wer das Sagen, die politische und ökonomische Macht hat. Sie untersucht die Entwicklung eingrenzender Territorialität, typologisiert die diversen Grenzen und offenbart einen differenzierten Blick auf Grenzregime und Grenzpolitik. Sie diskutiert aktuelle Fragen, die Staaten wie Menschen umtreibt. Wer darf warum Grenzen ziehen, sie verteidigen oder sie überwinden? Sie fragt nach der Freizügigkeit von Menschen, von Arbeitskräften, aber auch von Flüchtlingen vor Verfolgung, Unterdrückung, Hunger und Armut.

Nüchtern konstatiert sie: «Es handelt sich beim Wunschbild Grenze und beim Feindbild Grenze um eine Überbewertung dessen, was Zäune, Mauerbau, Passerteilung, Visa, Einwanderungs-, Arbeitsmarkt- oder Asylquoten bzw. ihre Abschaffung bringen können. In die Grenze werden ebenso wie in die Grenzenlosigkeit Hoffnungen projiziert, die diese niemals erfüllen können. Umgekehrt stellen Grenzen tatsächlich Mechanismen bereit, mit denen Staaten und Staatenbünde wirtschaftliche und politische Weichen stellen und Vor- und Nachteile für Bürger und Arbeitskräfte erwirken können.» Entscheidend sind stets die ökonomischen und sozialen Faktoren, die Menschen dazu zwingen, ihre Gesellschaften und Staaten zu verlassen. Menschen sind erwünscht, wenn sie Arbeits- oder Kaufkraft anbieten. Wenn nicht, dann fallen Schlagbäume und schließen sich die Tore sehr schnell. Repression, Rassismus und Nationalismus sorgen dafür, dass die einen drinnen und die anderen draußen bleiben.

Wenn aber die Bedürfnisse der Wirtschaft, also des Kapitals, bestimmen, was Grenze ist und wann sie durchlässig sein darf, dann wird das ganze Gerede von Freizügigkeit auf der einen und von der vorgeblichen Überfremdung« auf der anderen Seite zur Farce. Daran darf sich der Volkszorn abarbeiten, allerdings auch mit dem Risiko, zum unkontrollierbaren Nährboden für einen neuen Faschismus zu werden. Den Armen dieser Welt, die nach dem Reichtum des Westens Ausschau halten, bleibt nur die Verzweiflungstat und die Hoffnung, Brosamen zu finden. Diese Armen der Welt sind nicht nur im »globalen Süden« zu finden, wie soziale Klüfte und Ausgrenzungen auch innerhalb der EU zeigen, in der nur die geld- oder zumindest nutzbringenden Migranten erwünscht sind.

Andrea Komlosy hat »nichts einzuwenden, die eigenen Interessen in der Politik und im Gebrauch der Grenze zu verfolgen«, aber Menschen- und Völkerrecht ist dabei anzuerkennen, darf nicht verletzt werden.

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