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«Es muss auch jemand im Land bleiben»

Buchmessen-Gastland Geogien: Unterwegs mit dem Schriftsteller Archil Kikodze in seiner Heimatstadt Tbilissi

  • Johanna Reinicke und Harald Loch
  • Lesedauer: 6 Min.

Erstes Gespräch (in einer Weinstube oberhalb der Stadt)

Herr Kikodze, Ihr Roman «Der Südelefant» spielt in Ihrer Heimatstadt Tbilissi. Darin streifen Sie durch die jüngere Geschichte Georgiens. Wo wollen wir in Tbilissi darüber sprechen? Was schlagen Sie vor?

Archil Kikodze

Archil Kikodze, Jahrgang 1972, ist ein georgischer Schriftsteller, Fotograf und Naturführer aus Tbilissi. Er verfasste Reiseführer und wurde für seine Erzählungen und seine Arbeit als Fotograf vielfach ausgezeichnet. 2016 erschien sein Debütroman, der nun unter dem Titel »Der Südelefant« in deutscher Übersetzung vorliegt. Darin überlässt ein Filmregisseur seine Wohnung einem Freund für einen Tag, an dem er durch Tbilissi läuft und sich dabei an verschiedene Episoden seines Lebens erinnert und auch über die Zeit der späten Sowjetunion und der frühen Jahre der Unabhängigkeit Georgiens nachdenkt.

Johanna Reinicke und Harald Loch haben sich mit Achil Kikodze in Tbilissi getroffen und sind mit ihm durch seine Stadt gelaufen.

Foto: Levan Kherkheulidze

Begleiten Sie mich am besten in eine kleine Kaffee- und Weinstube. Von hier oben sehen Sie auf meine Stadt: Tief unter uns fließt die Mtkvari, auf Russisch auch Kura. Sie entspringt in der Türkei, fließt durch Georgien und mündet im Kaspischen Meer. Da drüben, unterhalb der Mauern der alten Narikala-Festung sehen Sie eine große orthodoxe Kirche. Sie ist ganz neu, wurde auf Veranlassung des Polizeipräsidenten erbaut. Seit der Unabhängigkeit hat die Kirche einen riesigen Einfluss auf die Gesellschaft in Georgien. Unterhalb der orthodoxen Kirche sind die Minarette einer in der Welt einmaligen Moschee, denn sie wird von Schiiten und Sunniten gleichermaßen benutzt. Weiter rechts eine Synagoge. Und da hinten, auf dem Berg, sehen Sie das kitschige Groß-Monument «Die Mutter Georgiens» - in der einen Hand Wein für die Freunde, in der anderen ein Schwert gegen die Feinde.

Sie haben gesagt, wie die Mtkvari auf Russisch heißt. Spielt das denn immer noch eine Rolle?

Georgien hat lange zum zaristischen Russland und dann zur Sowjetunion gehört. Noch heute kommen viele Touristen aus Russland in ihr «Traumland». Da gibt es auch traumatische Erinnerungen.

Zum Beispiel?

Morgen werden wir auf den Pfaden meines Romans durch Stadt gehen. Dabei kommen wir in der Kiacheli Straße zum Haus Nr.14, in dem der spätere Geheimdienstchef der Sowjetunion Lawrenti Beria gewohnt hat, als er KP-Vorsitzender von Georgien war. Hierher hatte der den Schriftsteller Micheil Dschawachischwili zu sich eingeladen. Doch der hatte die Einladungen immer ausgeschlagen. Deshalb hat Beria ihn umbringen lassen: Das Wohnhaus des Ermordeten steht noch mit einer Gedenktafel für ihn. Die anderen Häuser hat man abgerissen.

Und Stalin? Er war doch auch Georgier?

Der hat immer noch eine Reihe heimlicher Verehrer. Aber für Georgien, seine Heimatrepublik, hat er nie etwas Besonderes getan. Er wollte wohl den Eindruck einer besonderen Begünstigung vermeiden. Im Zweiten Weltkrieg hat er unsere Einheiten immer an besonders gefährliche Stellen geschickt.

Kommen wir zu Ihnen: Wie lebt man als Schriftsteller in einem kleinen Land mit einer «kleinen» Sprache?

Keiner kann hier von der Schriftstellerei allein leben. Ich habe auch andere Berufe. Ich fotografiere, bin Schauspieler, Drehbuchautor und vor allem bin ich Naturführer. Damit verdiene ich zusammen mit meiner Frau den Lebensunterhalt meiner Familie. Wir haben drei Kinder: Die Älteste ist 19, mein Sohn 17 und die Jüngste neun Jahre. Übermorgen führe ich den französischen Schriftsteller Michel Houllebecq mit einer kleinen Delegation in die Berge des Kaukasus.

Mögen Sie seine Bücher?

Ich habe fast alles von ihm gelesen. Er muss ein unglücklicher Mensch sein. Am besten hat mit sein Roman «Karte und Gebiet» gefallen.

In den letzten Jahren sind Hunderttausende Georgier ausgewandert. Haben Sie auch schon einmal daran gedacht?

Nein! Wir können nicht alle gehen. Jemand muss ja auch im Lande bleiben! Hier engagiere ich mich im Umweltschutz. Schauen Sie z.B. runter auf die Kura: Sie ist nicht nur von der Lehmerde so gelb, sondern auch von vielen nicht geklärten Abwässern, die sie unterwegs aufnimmt. Das historische Tbilissi hat wunderschöne Jugendstilhäuser. Leider können sie nicht instandgehalten werden und verfallen langsam. Schade um die prächtigen Balkone und Fassaden. Das Literaturhaus hingegen ist ein wunderschön restauriertes Stadtpalais. Es wurde einst von einem deutschen Architekten erbaut. Im Festsaal, wo auch ich schon gelesen habe, gibt es zu Feierlichkeiten keinen Rotwein, um das Interieur zu schonen.

Zweites Gespräch (Rundgang durch die Altstadt von Tbilissi)

Ein Tag in Alt-Tbilissi - so könnte man die Handlung des Südelefanten« beschreiben. Kommen Ihnen die Einfälle und Ideen zu Ihren Geschichten beim Flanieren?

Kommen Sie! Hier wohnt im Roman der Ich-Erzähler, der nicht ich bin. Ich selbst habe nebenan gewohnt und kenne das Haus und die Gegend sehr gut. Es stimmt: Ich schöpfe meine Einfälle aus dem realen Leben, das ich sehe und beobachte. Zwölf Stunden streift mein Held durch die Stadt, weil er einem verloren geglaubten Freund sein Zimmer »für kurze Zeit« zur Verfügung gestellt hat. Hier drüben ist die Bäckerei, die im Roman vorkommt, dort betreibt der Möbelhändler immer noch sein Geschäft. Ich kenne ihn seit Jahren. Hier ist die Kiacheli-Straße, von der ich Ihnen im Zusammenhang mit Beria gestern erzählt habe. Das kommt als Geschichte im Roman vor, weil der Ich-Erzähler eben an diesen Häusern vorbeikommt und die entsetzliche Geschichte als Teil unserer Vergangenheit benennt.

»Der Südelefant« war ein großer Erfolg in Georgien. Was kann man darunter verstehen?

Er war der zweite auf der Bestsellerliste - gleich nach Harry Potter. Aber ernsthaft: Mein Verlag hat in zwei Auflagen etwa 4000 Exemplare verkauft. Das ist für Georgien sehr viel. Ein Glück, dass wir inzwischen die Freiheit der Kunst feiern können. Überhaupt lebt man hier recht frei, obwohl noch keine wirkliche Demokratie herrscht. Es gibt einige wenige Reiche, die neben der Kirche großen Einfluss ausüben, und ganz viele Arme. Uns fehlt die Mittelschicht. Ohne die gibt es keine richtige Demokratie.

Sind Sie der Flaneur Kikodze mit dem fotografischen Blick für Ihre Stadt, dem Bewusstsein für ihre Geschichte und der Empathie für die einfachen Leute?

Na ja, meine literarische Methode haben Sie wohl zutreffend beschrieben. Aber in meinem Roman geht es ja um anderes: Es geht um eine tiefe, zwischenzeitlich verletzte Freundschaft. Um existenzielle Fragen von Schuld und Verlust und Tod, um Liebe und Erinnerung, auch um Humor, in dem manche Wahrheit besser zu verstecken ist. Das Flanieren allein macht noch keine Literatur. Trotzdem habe ich Sie heute mitgenommen auf den Spaziergang zu den Orten, an denen der »Südelefant« spielt. Zum Ort der Freundschaft, dem der Liebe, dem der Schuld - zu solchen Orten kann man nicht flanieren. Aber die Leser finden sie im Roman. Hier in diesem Park, in dem Sie die Kinder durch die Fontänen hüpfen sehen, spielt ja im Roman ein Showdown mit Jugendlichen. Der Kontrast zu dem, was wir beim Flanieren heute sehen, ist Teil des literarischen Prozesses bei mir. Der Park ist der gleiche wie im Roman - unsere Stimmung ganz anders. Meine Literatur entsteht nicht auf einem Spaziergang, sie hat eine eigene Wahrheit, aber auf dem Boden der Tatsachen.

Achil Kikodze: Der Südelefant. Aus dem Georgischen von Nino Haratischwili und Martin Büttner, Ullstein, 272 S., 22 €.

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