»Ich bin keine Heldin«

Die Syrerin Sarah Mardini half Geflüchteten und landete dafür im Gefängnis. Jetzt will sie selbst ankommen

  • Marion Bergermann
  • Lesedauer: 8 Min.

Sie waren in Griechenland 106 Tage im Gefängnis, weil Sie als Freiwilligenhelferin angeklagt sind, Mitglied einer Nichtregierungsorganisation zu sein, die Menschen geschmuggelt haben soll. Jetzt sind Sie auf Kaution frei. Wie geht es weiter?

Ja, ich bin auf Kaution frei. Die Ermittlungen sind vorüber und wir warten, bis der Richter entscheidet, ob es einen Prozess gibt oder nicht.

Zur Person

Sarah Mardini stammt aus Syrien und ist ehemalige Leistungsschwimmerin. Die heute 23-Jährige wurde 2015 berühmt, als sie mit ihrer Schwester Yusra das Schlauchboot, auf dem sie übers Mittelmeer kamen, nach einem Motorschaden schwimmend an die griechische Küste zog. Seit 2017 engagierte sie sich auf Lesbos als Arabisch-Übersetzerin und Helferin für Geflüchtete, die mit Booten ankommen.

Von August bis Dezember 2018 saß sie deshalb in Griechenland in Untersuchungshaft. Ihr wird Mitgliedschaft in einer Vereinigung vorgeworfen, die Menschen schmuggele, außerdem direkte Hilfe für Schmuggler, Geldwäsche sowie Spionage gegen die Hafenpolizei. Ob es zum Prozess kommt, ist derzeit unklar.

Sarah Mardini hat inzwischen ein Politikstudium in Berlin aufgenommen und lebt ein Leben zwischen ihrer Freiwilligenarbeit und der Universität.

Gegen 29 Ihrer Kolleginnen und Kollegen von ERCI (Emergency Response Centre International) - die Nichtregierungsorganisation, mit der Sie auf Lesbos arbeiteten - wird ebenfalls ermittelt. Warum war gerade sie Ziel der Behörden?

Ich glaube nicht, dass es um ERCI geht, sondern um die humanitären Organisationen generell. Denn wir sind 37 Personen von unterschiedlichen NGOs, die mit den gleichen Anschuldigungen konfrontiert sind, fünf davon waren im Gefängnis.

Sie sind wieder in Berlin, seit Sie im Dezember 2018 freikamen. Hier haben Sie Ihr Studium wieder aufgenommen. Sind Sie momentan politisch aktiv?

Nein, weil mein Gerichtsverfahren noch läuft. Ich warte darauf, dass ich für unschuldig erklärt werde, sodass ich mich wieder engagieren kann. Ich kann nicht einmal die Fundraisingkampagne einer Freundin online teilen. Also bin ich solange einfach Studentin. Ich versuche aufzuholen, was ich in der Universität verpasst habe, mein eigenes Leben hier aufzubauen, mich um meine mentale Gesundheit zu kümmern. Außerdem reise ich umher, um über meine persönlichen Erfahrungen zu reden.

Sie bekamen viel mediale Aufmerksamkeit und werden weiterhin zu Podiumsdiskussionen eingeladen. War das vielleicht gut dafür, dass der Fokus wieder auf der Situation auf Lesbos liegt?

Ja, ich habe Briefe im Gefängnis bekommen, in denen mir alle berichteten, dass die Aufmerksamkeit wieder auf Griechenland und besonders den Geflüchteten liegt. Und ich war sehr dankbar. Ich habe gesagt, es macht mir nichts aus, festgehalten zu werden, wenn das der Situation dient.

Wirklich?

Ja, bis heute. Ich bin wirklich einverstanden damit, eingesperrt zu werden, wenn ich dadurch anderen mehr Aufmerksamkeit gebe. Aber die persönliche Seite mochte ich nicht, weil alle wollten, dass ich wie eine Heldin aussehe. Als ich etwa im Gefängnis am Telefon zu Freunden sagte, dass ich in einer Gefängnisbibliothek lesen werde, schrieb jemand danach, dass ich eine Bibliothek gegründet hätte. Dann hieß es, ich habe meinen eigenen Englischkurs im Gefängnis gestartet. Nein, es war ein Mädchen, die mir mit Griechisch half und ich ihr mit Englisch.

Ein gewisser Starstatus.

Genau. Ich brauche nicht die ganze Zeit eine Heldin zu sein. Ich habe keine Leben gerettet und habe keine sterbenden Menschen aus dem Meer gezogen.

Also finden Sie es schwierig, wenn alle Sie für so stark halten? Als ob es Ihnen nichts ausmacht, Ihre Geschichte zu erzählen?

Ich weiß, dass ich superstark bin, aber ich weiß auch, dass ich keine Heldin bin. Was ich gemacht habe, ist ungewöhnlich. Ich litt unter der Freiwilligenarbeit, und meine Freunde dort genauso. Und wenn wir zurück ins normale Leben gehen, ist das sehr hart für uns. Niemand versteht, was wir da unten als Freiwillige gemacht haben. Kleine medizinische Operationen, helfen, wenn Boote ankommen, Kinder unterrichten. Aber die Leute haben dieses Bild, dass ich tote Menschen aus dem Meer ziehe. Es ist viel mehr als das und frustrierend, dass sich niemand dafür interessiert.

Man hört manchmal, wie schwierig es für Geflüchtetenhelfer ist, mit ihren Erfahrungen umzugehen, wenn sie wieder zu Hause sind. Ihnen ging das anscheinend auch so.

Als ich zurückkam, war das Erste, was ich sagte: »Warum bin ich hier?« Deswegen bin ich in den letzten zwei Jahren immer wieder zurück nach Griechenland gefahren, um zu arbeiten. Wenn du nach Deutschland zurückkommst, weiß niemand etwas über dich. Was du dort durchgemacht hast. Ich finde es recht schwierig, selbst meine Familie versteht nicht viel. Sie haben die Reise hierher hinter sich. Aber mit Geflüchteten zu arbeiten, ist anders. Und ich liebe diese Arbeit.

Aber warum gingen Sie überhaupt zurück nach Lesbos, den Ort, wo Sie selbst 2015 ankamen, nachdem Sie es nach Berlin geschafft hatten?

Nachdem wir es nach Deutschland geschafft hatten, wurde die Geschichte bekannt über die zwei Schwestern, die schwimmend das Boot an Land zogen und all das. Und dann - es gibt dieses Camp auf Lesbos, Pikpa - erzählte die Kinderpsychologin von ERCI den Kindern dort die Schwestern-Story. Um ihnen Hoffnung zu geben, dass es eine Zukunft gibt. Daraufhin sagten die Kinder: »Bring mir Schwimmen bei, ich will wie die Schwestern sein.« Ein Helfer erzählte mir das, woraufhin ich für zwei Wochen hinflog. Ich wollte diese Reise machen, denn wenn ich vor etwas Angst habe, will ich mich damit konfrontieren. Wie, als ich am Flughafen in Lesbos festgenommen wurde. Ich bin seitdem nicht mehr dort gewesen, aber will dahin zurück. Weil ich meine Angst verlieren muss. Auch damals wollte ich in das Gebiet zurück, wo ich zuerst gelandet war. Um all diese Emotionen rauszulassen, sie loszuwerden. Und dort lernte ich dann ERCI kennen.

Sie arbeiteten mit dessen Team als Übersetzerin in einer Klinik und nachmittags halfen Sie an der Küste, ankommende Geflüchtete zu versorgen.

Ich habe unser Team geliebt. Wenn Sie als neue Freiwillige kamen, war der erste Satz: »Du rettest niemandem das Leben. Das sind Überlebende, sie sind von selbst über das Meer gekommen. Du händigst ihnen nur eine Decke oder Wasser aus oder gibst ihnen medizinische Hilfe. Du bist keine Heldin.« Wenn eine NGO mit diesem Satz beginnt, sagt das viel über sie.

Ab wann wird jemand eigentlich nicht mehr als Flüchtling gesehen?

Das ist eine knifflige Frage. Ich werde immer Flüchtling genannt und sage es immer selbst, weil ich mich nicht dafür schäme. Wenn ich fast im Krieg gestorben wäre und fast im Meer gestorben wäre und diese 25 Tage der Flucht durchgemacht habe, und das macht mich zu einem Flüchtling, dann fühle ich mich geehrt. Weil es nicht nur ein Wort ist, es ist eine Geschichte dahinter. Ich werde immer sagen, ich bin ein Flüchtling, und, ich füge hinzu, eine Muslima. Weil Leute das immer verstecken. Ich bin eine syrische muslimische Geflüchtete.

Auch weil sie müssen, oder? Es gibt genug Rassismus gegen Muslime hier, und das Asylrecht bevorzugt gewisse Herkunftsländer.

Ich bin gerne bereit, mich mit jemandem hinzusetzen und ein Gespräch zu führen, bevor er sich eine Meinung über mich bildet. Und Leute sollten aus ihrer Komfortzone rauskommen. Meine Fahrt nach Europa, das war außerhalb meiner Komfortzone. Ich wurde die, die ich heute bin. Wenn ich in Syrien wäre, wäre ich niemals diese Person. Ich wäre einfach verheiratet und hätte Kinder. Wir haben viele Probleme in der Welt, globale Erwärmung, Menschen, die unter Wasserknappheit leiden.

Warum haben Sie 2015 beschlossen, nach Berlin zu gehen, nachdem Sie über die sogenannte Balkanroute kamen?

Ich wollte eigentlich nach Hannover, weil meine beste Freundin da war. Wir kamen 2015 mit der großen Anzahl von Menschen und schafften es von Wien nach München. Dort transferierten sie uns nach Berlin, wo wir uns um Papiere und all das kümmerten. Dann hörten wir, dass es dort viele gute Schwimmvereine gibt. Also blieben wir.

Aber sind Sie am Ende froh gewesen, hier zu sein?

Ich denke, ja. Am Anfang versteht man das nicht, aber später dann. Berlin ist die Stadt der Chancen. Sie ist wahnsinnig international, das liebe ich wirklich an ihr. Und jede Woche habe ich Leute zu Besuch.

Also wollen Sie erst einmal noch ein bisschen bleiben?

Ich muss bleiben, bis ich meinen Universitätsabschluss und meine Staatsbürgerschaft habe.

Sie wollen die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen?

Ja. Hoffentlich bekomme ich die Staatsbürgerschaft zum Zeitpunkt, wenn ich mit der Uni fertig bin. Ich muss meinen Abschluss machen, ich muss den fertig kriegen.

Ist es nicht schwierig, sich in der Uni um Noten zu kümmern, wenn Sie im Kopf noch in Griechenland sind?

Ein Semester lang war ich sehr schlecht in der Uni. Jetzt studiere ich viel. Aber mental leide ich darunter. Immer wieder denke ich daran, was ich auf Lesbos gemacht habe. Ich habe Boote getragen, vermittelt und übersetzt. Was falsch ist, weil ich mich hier in meinem normalen Leben finden muss. Ich versuche, meine zwei Persönlichkeiten, die, wenn du mich in Griechenland triffst und die hier, zusammenzubringen. Oder mir hier eben ein Leben aufzubauen, ohne dabei die ganze Zeit an dort zu denken.

Es gibt einige aus Syrien geflohene Leute, die ein bisschen bekannt wurden in Deutschland. So wie der Youtuber Firas Alshater oder Ramy Al-Asheq, der eine deutsch-arabische Zeitung herausbrachte. Kennen sich die Syrer aus der Kunst- und Politiksphäre in Berlin?

Ja, Firas war am Flughafen, als ich wiederkam, um mich abzuholen, zusammen mit anderen Freunden. Und letztes Jahr gab es diese Bar »Bulbul Berlin«, wo wir alle hingingen. Da habe ich zum Beispiel den Künstler Khaled Barakeh getroffen. Wir haben alle viel über Politik geredet. Ich will ein Musikprojekt machen, bei dem ich all die Musiker von Berlin nach Griechenland zu den Geflüchteten bringe, um sie an einen Teil unserer Kultur zu erinnern und ihnen zu zeigen, dass sie an irgendeinem Punkt ein Leben bekommen werden.

Glauben Sie wirklich, dass Menschen, die im Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos leben, an irgendeinem Punkt ein besseres Leben bekommen?

Ja, weil sie sich schon ihre eigenen Leben da unten aufbauen. Wenn man es geschafft hat, sich an einem leblosen Ort ein Leben zu schaffen, kann man eine Menge tun.

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