Die Rathäuser sind heute Kasernen

Cizres abgesetzte Bürgermeisterin Leyla Îmret über die Kommunalwahlen in der Türkei, den Wunsch nach der Wiederaufnahme von Friedensgesprächen und eine ungewöhnliche Kooperation der Oppositionsparteien

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 6 Min.

Frau Îmret, sind Sie noch Bürgermeisterin von Cizre?

Ja. Bis zum 31. März. Erst dann werden die neuen Bürgermeister gewählt.

Leyla Îmret

Leyla Îmret, Jahrgang 1987, wurde bei den Kommunalwahlen 2014 in ihrer Geburtsstadt Cizre in Südostanatolien zur jüngsten Bürgermeisterin der Türkei gewählt, mit mehr als 80 Prozent der Stimmen. 2015 wurde Îmret ihres Amtes enthoben und danach mehrmals verhaftet, gegen sie läuft ein Verfahren wegen »Aufwiegelung des Volkes« und »Propaganda für eine Terrororganisation«, Ende 2016 ging sie ins Exil, zunächst in den Nordirak, dann nach Deutschland. Heute ist Îmret Ko-Vorsitzende der Linkspartei HDP in Deutschland. Sie war 2014 für die Demokratische Regionenpartei (BDP/DBP) angetreten, eine regionale Ablegerin der HDP. Insgesamt gingen 2014 102 Rathäuser an die BDP/DBP, 96 dieser Rathäuser stehen inzwischen unter Zwangsverwaltung, 56 Bürgermeister sind in Haft, viele mussten untertauchen. Îmret war als Kind zu Verwandten nach Bremen geflohen und 2013 nach Cizre zurückgekehrt. Sie ist Protagonistin des Dokumentarfilms »Dil Leyla«. Mit ihr sprach Nelli Tügel. Foto: SWR/Carina Neubohn/essence-film

Sie erkennen die Amtsenthebung durch den Gouverneur vom September 2015 also nicht an?

Genau.

Was heißt es konkret, trotz Amtsenthebung und Exil Verantwortung für eine Stadt zu tragen?

Zunächst war ich ja noch vor Ort. Im September 2015 wurde ich des Amtes enthoben - befristet, das wird seither regelmäßig verlängert. Als ich noch in der Türkei war bis Ende 2016 habe ich weiterhin in engem Kontakt mit den Bewohnern von Cizre gestanden und meine Arbeit fortgesetzt, auch als wir nicht mehr ins Ratshaus konnten. Seit ich im Exil bin betrachte ich es als meine Aufgabe, als Volksvertreterin überall da, wo es geht, ob im Europarat, im Europäischen Parlament, bei Stiftungen oder Vereinen, die Sorgen und Forderungen der Menschen von Cizre vorzutragen.

Was sind das für Forderungen? Und überhaupt: Was sind die Themen der Kommunalpolitik in den kurdischen Gebieten der Türkei?

Als es den Friedensprozess noch gab, waren das wie überall soziale Themen: Ausbau der Infrastruktur, Projekte, die die Lebensqualität verbessern und so weiter. Seit der Dialog beendet wurde, ist das wichtigste Thema in den kurdischen Regionen wieder die Sicherheit von Leib und Leben. Seitdem sind Forderungen nach Frieden und Freiheit die dringendsten Anliegen. Das kommt vor allem anderen. Dennoch versuche ich aus dem Exil heraus auch soziale Projekte weiter voranzubringen und so für die Menschen vor Ort da zu sein.

Wer sitzt derzeit eigentlich an Ihrer statt im Rathaus in Cizre?

Der Gouverneur der Provinz Şırnak, zu der Cizre gehört, ist von der Zentralregierung in Ankara als Zwangsverwalter eingesetzt worden. Normalerweise wird in der Türkei bei einer Amtsenthebung vom Stadtrat ein stellvertretender Bürgermeister gewählt. In Cizre wurde das zunächst auch gemacht. Im Herbst 2016 wurden dann aber in einer Art Putsch die Rathäuser in den kurdischen Gebieten unter Zwangsverwaltung gestellt. Sie haben sich seither in Kasernen verwandelt. Die Rathäuser sind für die Bürger gar nicht mehr zugänglich, man muss heute etliche Kontrollen passieren, um da überhaupt noch hineinzukommen. Die Menschen fühlen sich von denen, die da in den Rathäusern sitzen, nicht mehr vertreten.

Nun wird allerdings neu gewählt. In Cizre stehen für Ihre Partei, die HDP, Mehmet Ziriğ und Özlem Kutlu zur Wahl. Werden sie gewinnen?

Ja, hundertprozentig (lacht).

Aber Erdoğan hat schon angekündigt, jeden HDP-Bürgermeister, der gewählt wird, wieder absetzen zu lassen. Ist es da überhaupt noch sinnvoll, seine Stimme abzugeben?

Erdoğan will erreichen, dass seine Gegner nicht mehr wählen gehen, indem er die Menschen demoralisiert, damit sie denken, es sei egal ob sie wählen oder nicht. Gerade in den kurdischen Gebieten lassen es sich die Menschen aber nicht nehmen, immer wieder zu zeigen, dass sie sich mit der Zwangsverwaltung und der AKP-Politik nicht arrangieren werden. Es ist wichtig, dies auch an der Wahlurne zu zeigen und hier nicht aufzugeben.

Erdoğan hat im Wahlkampf gegen vermeintliche Terroristen gewettert, getroffen hat das fast alle, die in Opposition zur AKP stehen.

Ja. Und dass Erdoğans Wahlkampf hauptsächlich darin besteht, gegen die HDP zu hetzen, zeigt auch eine Schwäche. Und dass er sogar die Kandidaten der CHP inzwischen als Terroristen beschimpft, zeigt, dass er eine Niederlage in Großstädten wie Ankara oder İstanbul fürchtet. Dort verzichten wir auf eigene Kandidaten zugunsten der CHP, damit die AKP endlich abgewählt wird.

Finden Sie diese Taktik richtig? Schließlich ist die CHP selbst antikurdisch und nationalistisch.

Uns ist wichtig, dass die AKP dort abgewählt wird. Und wenn wir eigene Kandidaten in diesen Städten aufgestellt hätten, würden die Stimmen der Opposition gespalten. Zudem gibt es in der CHP zwar einen nationalistischen, aber auch einen demokratisch-neutralen Flügel. Deshalb hat die HDP die Haltung, dass dort, wo wir keine eigenen Kandidaten aufgestellt haben, unsere Unterstützer selbst entscheiden sollen, ob sie sich dem jeweiligen CHP-Kandidaten nah fühlen und diesen wählen werden oder nicht.

Sind die Wahlen fair?

Nein, von fairen und demokratischen Wahlen kann schon lange keine Rede mehr sein. Alle Wahlen, die seit 2014 stattgefunden haben, fanden unter Druck oder Ausnahmezustand statt. Die HDP wird massiv verfolgt, ihre Kandidaten festgenommen, für sie gelten nicht die gleichen Bedingungen wie für die anderen Parteien. In den kurdischen Gebieten kommt hinzu, dass Beamte, Polizei und Militär vor Ort sind, außerdem die Rathäuser unter Zwangsverwaltung stehen. Dort herrscht immer noch Ausnahmezustand, auch wenn dieser im Sommer 2018 offiziell aufgehoben wurde. Außerdem gibt es Hinweise auf Wahlfälschungsversuche zum Beispiel durch das Registrieren von Wählern, die es gar nicht gibt.

Kann die HDP etwas dagegen tun?

Viele Menschen sind sehr aufmerksam geworden. Da, wo wir stark sind, bleiben beispielsweise etliche nach der Stimmabgabe bei den Wahllokalen und halten Wache, bis die Stimmen ausgezählt wurden.

Als 2014 die letzten Kommunalwahlen stattfanden gab es den Dialog zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Arbeiterpartei PKK, an dem auch die HDP beteiligt war. Es sah so aus, als könnte es tatsächlich Frieden geben. Heute scheint das Lichtjahre entfernt. Bleibt dennoch Hoffnung auf eine Lösung des Kurdenkonfliktes?

Es gab in der Türkei immer wieder Phasen von Krieg, Verfolgung und Unterdrückung. Doch keiner Regierung ist es je gelungen, die Menschen in die Knie zu zwingen. Auch unter schwierigen Bedingungen kämpfen sie weiter für ihre Rechte, für Freiheit und Demokratie. Im Moment sind 7000 Menschen in den Gefängnissen im Hungerstreik. Begonnen hatte die HDP-Abgeordnete Leyla Güven, seitdem verbreitert sich das Tag für Tag. Und auch wenn wir es nicht mögen, dass Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, so zeigt diese Aktion doch, dass die Regierung mit Assimilations- und Vernichtungspolitik die Kurden nicht zum Verstummen bringen wird. Die Hoffnung ist also noch da, dass der Druck auf die Regierung durch die Beharrlichkeit der Menschen eines Tages so groß ist, dass es wieder einen Dialog mit der PKK geben wird.

Wünschen Sie sich, nach Cizre zurückzukehren?

Sehr. Es tut mir weh, die Wahlen von weitem beobachten zu müssen und nicht da sein zu können. Und ja, ich habe Hoffnung, dass der Tag kommen wird, an dem die Waffen niedergelegt und die Friedensgespräche wieder aufgenommen werden und ich nach Cizre zurückkehren kann.

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