Atomismus und Freiheit

Bis heute von Legenden umrankt: Wie kam Karl Marx zu seinem Doktortitel?

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 7 Min.

Mit 17 Jahren und einer Durchschnittsnote von 2,4 legte Karl Marx 1835 in Trier sein Abitur ab. Danach begann er an der Universität Bonn Rechtswissenschaften zu studieren. Überliefert aus dieser Zeit ist wenig, zumindest aber so viel, dass Marx regelmäßig einige juristische und historische Vorlesungen besuchte. Ansonsten genoss er das »schöne Studentenleben« und musste, wie aus seinem Zeugnis hervorgeht, »wegen nächtlichen ruhestörenden Lärmens und Trunkenheit« eine eintägige Karzerstrafe absitzen.

Bereits nach einem Jahr wechselte Marx auf Wunsch seines Vaters an die Friedrich-Wilhelms-Universität nach Berlin, um sein Jurastudium dort fortzusetzen. Fast fünf Jahre blieb er in der Stadt, in der bis zu dessen Tod im Jahr 1831 der einflussreiche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel gelehrt hatte. Nach und nach ließ Marx in Berlin ab von der Juristerei und stürzte sich mit großem Eifer in das Studium der Philosophie, insbesondere der Philosophie Hegels. Während dieser Zeit fand er Anschluss an den sogenannten Doktorclub, einen Kreis von Jung- bzw. Linkshegelianern, die sich vor allem der Religionskritik verschrieben hatten. Führender Kopf des Doktorclubs war Bruno Bauer, ein studierter Theologe, der ab 1839 als Privatdozent an der Universität Bonn lehrte und hoffte, dort alsbald zum außerordentlichen Professor berufen zu werden. Vom Genie des jungen Marx ehrlich beeindruckt, wollte Bauer diesen ebenfalls nach Bonn holen und habilitieren: »Kommst Du nach Bonn, so wird dieses Nest vielleicht bald der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit werden und wir können hier die Krisis in ihren wichtigsten Momenten herbeiführen.«

Zuvor freilich musste Marx sein Doktorexamen ablegen. Mit den Vorarbeiten zu seiner Dissertation hatte er bereits Anfang 1839 begonnen und ein Thema aus der griechischen Philosophie gewählt: »Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie«. Demokrit von Abdera war der bedeutendste Vertreter des antiken Atomismus, demzufolge alles in der Welt aus kleinen, unsichtbaren Teilchen besteht, deren Bewegung strengen Gesetzen folgt. Epikur, der heute vor allem bekannt ist für seine Ethik der Lebensfreude, knüpfte unmittelbar an Demokrits Atomismus an, fügte ihm aber ein weiteres Element hinzu: die Deklination. Danach können Atome von ihrer vorgegebenen Bahn abweichen, und zwar spontan und ohne äußeren Zwang. Das Atom wird damit zum Symbol des freien Willens. Es birgt in seiner Dynamik »die erste Form des Selbstbewusstseins«, so Marx, der sich, wie sein Biograf Jürgen Neffe betont, auf die Seite der epikureischen Freiheit geschlagen habe, ohne die demokritische Notwendigkeit aufzugeben. Denn Freiheit sei niemals total. »Statt der absoluten Freiheit sieht Marx eine relative im dialektischen Verhältnis zur Vorbestimmtheit.«

Von Anfang an arbeitete Marx ungemein gründlich an seiner Dissertation. Davon zeugen nicht zuletzt sieben erhaltene »Hefte zur epikureischen, stoischen und skeptischen Philosophie«, die neben umfangreichen Exzerpten auch ausführliche Kommentare enthalten, die den fortschreitenden Erkenntnisprozess des 21-Jährigen dokumentieren.

In guter Gesellschaft bei Promotion in absentia

Eigentlich hatte Marx vor, in Berlin zu promovieren. Auch Bauer ermunterte ihn dazu: »Du kannst Dich nun diplomatisch genau über die Promotionsleistungen unterrichten. Das colloquium ist nur eine Form, die in einer Viertelstunde abgemacht ist.« Außerdem, so Bauer weiter, drehe sich das Examen in Berlin vornehmlich um Aristoteles, Spinoza und Leibniz - um »weiter nichts«.

Doch dann änderte Marx seinen Plan und beschloss, seine Dissertation an der Universität Jena einzureichen. Denn in Berlin wehte inzwischen ein anderer politischer Wind. Nach anfänglichen Versprechungen von mehr Freiheit und Liberalität stellte sich der neue preußische König Friedrich Wilhelm IV. offen auf die Seite der Reaktion. Die große Zeit der Linkshegelianer ging damit unwiderruflich zu Ende. 1841 ließ der König sogar den alternden Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling von München nach Berlin berufen, damit er, so der Auftrag, »die Drachensaat des Hegelschen Pantheismus« ausrotte.

An eine akademische Karriere in Berlin war für Marx daher nicht mehr zu denken. Dass er sich stattdessen für Jena als Promotionsort entschied, hatte verschiedene Gründe, wie Historiker jetzt in dem lesenswerten Buch »Karl Marx und die Universität Jena« dargestellt haben. Der vielleicht wichtigste: In Jena war es möglich, dass ein Kandidat »in absentia« (in Abwesenheit) seinen Doktorgrad erwerben konnte. Das heißt, es blieb ihm erspart, zu einer mündlichen Prüfung (Disputation) zu erscheinen und seine Doktorthesen auf Latein zu verteidigen. Diese Möglichkeit wurde reichlich genutzt, vor Marx unter anderem von dem Botaniker Matthias Jacob Schleiden, einem der Begründer der Zelltheorie, und dem Komponisten Robert Schumann, dessen »Dissertation« aus mehreren musiktheoretischen Aufsätzen bestand.

Voraussetzung für eine Promotion in absentia war, dass der Kandidat ein abgeschlossenes Studium nachweisen konnte, über gute Sittenzeugnisse verfügte und bei der Fakultät eine selbst verfasste Abhandlung in lateinischer Sprache einreichte. Darüber hinaus musste er eine Gebühr entrichten. Das Geld ging teilweise an die mit der Arbeit befassten Professoren, die dadurch ihr Gehalt etwas aufbessern konnten, wie die Jenaer Historiker Joachim Bauer und Thomas Pester in ihrem Buchbeitrag schreiben.

Nachdem Marx am 6. April 1841 seine Dissertation in Jena eingereicht hatte, verlief alles rasch und reibungslos. Obwohl die Arbeit auf Deutsch verfasst war, wurde sie vom Dekan der Philosophischen Fakultät als ausreichend für den Vollzug der Promotion anerkannt. Die Dissertationsschrift, so lautete dessen abschließendes Urteil, »zeugt von eben so viel Geist und Scharfsinn als Belesenheit, weßhalb ich den Candidaten für vorzüglich würdig halte«. Die gelegentlich kolportierte Auffassung, dass Marx sich nur deshalb für eine Promotion in absentia entschieden habe, weil er glaubte, den Anstrengungen einer »echten« Promotion nicht gewachsen zu sein, entbehrt mithin jeder Grundlage. Nebenbei nur sei bemerkt, dass auch der geniale Mathematiker Carl Friedrich Gauß seinen Doktorgrad in absentia erwarb - 1799 an der Universität Helmstedt. Ihm deswegen irgendwelche unlauteren Motive zu unterstellen, auf diese Idee käme bei Gauß wohl niemand.

Doch zurück zu Marx: Am 15. April 1841 wurde dessen Doktordiplom in Jena gedruckt und bereits am nächsten Tag nach Berlin versandt. Mit dem Diplom in der Tasche machte sich Marx wenig später auf den Weg nach Bonn - in der Hoffnung, an der Seite Bruno Bauers eine Laufbahn als Hochschullehrer für Philosophie einschlagen zu können. Wie üblich im akademischen Betrieb plante Marx die Drucklegung seiner Dissertation, für die er bereits eine Vorrede verfasst hatte. Sie endete mit den Worten: »Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender.« Bauer gefiel das ganz und gar nicht. Denn er hegte die Befürchtung, dass Marx mit solchen Sätzen seine Karriere an der Universität aufs Spiel setzen könnte: »Wozu den Schaafsköpfen jetzt in dem Augenblick, wo Du noch gar nichts weißt, wie Du Dich placiren kannst, mit Muthwillen einen Brocken hinwerfen, der ihnen Anlaß zum Schreien gibt und sogar Waffen, um Dich für lange Zeit von jedem Katheder entfernt zu halten.«

Das Originalmanuskript ist verschollen

Was Bauer bei Marx befürchtet hatte, ereilte am Ende ihn selbst. Aufgrund seiner immer schärfer werdenden religionskritischen Äußerungen wurde ihm im März 1842 die Lehrerlaubnis entzogen. Ohne sich dagegen zu wehren, verließ Bauer Bonn und lebte zuletzt als freier Schriftsteller in Rixdorf (im heutigen Berlin-Neukölln). Für Marx hatte sich eine akademische Karriere damit ebenfalls erledigt. Als neue Herausforderung wandte er sich dem politischen Journalismus zu. Er schrieb Artikel für die liberale »Rheinische Zeitung« in Köln, zu deren Chefredakteur er im Oktober 1842 ernannt wurde. Eine Drucklegung seiner Dissertation hielt er unter diesen Umständen offenkundig nicht mehr für nötig.

Leider ist auch das Original der Marxschen Doktorarbeit verschollen. Was allein noch existiert, ist eine von unbekannter Hand angefertigte Abschrift, die 1927 als Vorlage für die Erstveröffentlichung der Arbeit im Rahmen der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) diente. Um ein Haar wären auch die Promotionsunterlagen von Marx für immer verloren gegangen. Denn sie lagerten 1945 im Keller des Hauptgebäudes der Universität Jena, das gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bei einem Luftangriff schwer beschädigt wurde. Einem Bibliotheksrat gelang es jedoch, die unter Trümmern verschütteten Unterlagen zu bergen und sie so für die Nachwelt zu retten. Im Januar 1947 ging der größte Teil davon als Geschenk der Jenaer Universität an das damalige »Marx-Engels-Lenin-Institut« nach Moskau. Dort befinden sich die Schriftstücke bis heute.

Joachim Bauer, Stefan Gerber (Hg.): Karl Marx und die Universität Jena. Vopelius Verlag, 237 S., 28,80 €

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