Früchte des Zorns

Bei einem Pressetermin des Doping-Opfer-Hilfevereins kommt es zu Handgreiflichkeiten

Hach, die Welt ist kompliziert. Die wissenschaftliche ganz besonders, aber auch die profane, reale: Wie soll man verstehen, dass ein 79-jähriger renommierter Professor der Zell- und Molekularbiologie plötzlich schnaufend auf der Presseveranstaltung eines gemeinnützigen Vereines erscheint, in dem er fast zwei Jahrzehnte lang mitgearbeitet hat, woraufhin ihn der neue Vorsitzende, sein ehemaliger Anwalt und Mitstreiter, eigenhändig aus der Tür schiebt?

Die Irrationalität dieser Handlungen liegt begründet in sehr mühsam zu klärenden Fragen: Wie viele Opfer hat das DDR-Staatsdoping hervorgebracht, beziehungsweise wie viele bringt es noch immer hervor - 30 Jahre nach dem krachenden Ende des sozialistischen Feldversuchs im Osten dieses Landes? Wem steht noch Entschädigung für erlittenes Leid zu, wem nicht? Wie war das mit den Diplomaten im Trainingsanzug? Wurden oder haben sie gedopt? Welche Schäden erben ihre Nachfahren? Können psychische Traumata in die DNA eingeschrieben sein?

Den Handgreiflichkeiten am Donnerstagvormittag war eine Einladung des Doping-Opfer-Hilfevereins (DOH) vorausgegangen - zum Pressegespräch am Vormittag in der Bundesstiftung Aufarbeitung in Berlin. Seit Ende 2018 amtiert Michael Lehner als DOH-Vorsitzender, ein Heidelberger Rechtsanwalt, der in den 90er Jahren die 194 Dopingopfer vertrat, die gegen die DDR-Sportführer prozessierten.

Bereits vor Beginn der Veranstaltung hatte Lehner seinem ehemaligen Weggefährten Heidelberger Biologieprofessor Werner Franke an der Eingangstür den Zugang verwehrt. Es war zu einem Gerangel gekommen. Als die Veranstaltung ein paar Minuten lief, tauchte Franke plötzlich im Konferenzraum selbst auf. Lehner sprang auf und sagte, Franke solle den Raum verlassen. »Nein«, herrschte der ungebetene Gast den DOH-Vorsitzenden an. Als Lehner den 79-Jährigen mühsam aus dem Raum schob, klickten die Kameras. Franke rief empört: »Wer die Wahrheit hören will, muss ins ›Maximilans‹ kommen.« In das nur wenige Meter entfernte Restaurant hatte Franke die Journalisten allerdings bereits vorher per Mail eingeladen.

Was aber ist die Wahrheit? Seit mehr als einem Jahr schwelt ein Streit zwischen dem DOH und einem Quartett renommierter Antidopingkämpfer um Werner Franke (siehe »nd« vom 22.12.2018). Die Kritiker werfen dem DOH Unwissenschaftlichkeit und politische Instrumentalisierung der Entschädigungssuchenden vor: Der DOH bestehe nur noch zum Selbstzweck, insinuierten sie, der Verein organisiere sich passende Forschungsergebnisse wie per DNA geschädigte Opfer in zweiter Generation, um eine Entfristung des zweiten Dopingopferhilfegesetzes zu erreichen. Der DOH arbeite politisch einseitig und interessengeleitet.

Im Zuge der Kritik trat damals die DOH-Vorsitzende Ines Geipel zurück, Lehner übernahm das Amt auf ihre Initiative hin. Der Verein berät Dopingopfer aus allen 15 ehemaligen Bezirken der DDR. Wer im Osten Deutschlands trainierte und »unwissentlich« Dopingmittel einnahm, kann beim Bundesverwaltungsamt einen Antrag auf Entschädigung stellen. 10 500 Euro erhalten die »Anspruchsberechtigten«, wenn sie die Voraussetzungen erfüllen.

Beim DOH sieht man sich vollkommen zu Unrecht angegriffen. »Es tut mir in der Seele weh. Werner Franke hat viel für den Verein getan«, sagte Lehner. Als Ursache für den Zorn Frankes vermutet man persönliche Animositäten zwischen dem Molekularbiologen Franke und der ehemaligen Vorsitzenden Geipel. Lehner betonte am Donnerstag, der DOH sei ein beratender Verein, der solange arbeiten werde, wie ein Bedarf bestünde. Der sei gegeben: 2018 hätten sich 300 Menschen erstmals beim DOH gemeldet und um Hilfe gebeten, erklärte eine Vereinsmitarbeiterin. Dieses Jahr habe man nach einem halben Jahr bereits »wieder 150 Erstkontakte« gezählt. Der Bund habe für 2020 weitere 90 000 Euro zugesagt, womit es möglich werde, eine Sozialarbeiterin fest beim DOH anzustellen. Im November werde das 20. Jubiläum des Vereins gefeiert, sagte Lehner. Er glaube, es werde auch ein 30. geben.

Eine halbe Stunde nach Ende des Pressegesprächs saßen die Reporter dann im Restaurant »Maximilians«, wohin Deutschlands renommiertester Antidopingkämpfer gerufen hatte: Dieser Streit sei in seinem Sinne, sagte Werner Franke, »weil ich als Wissenschaftler zur Wahrheit verpflichtet bin. Ich kann doch nicht behaupten, irgendwelche Leute im Mecklenburger Land hätten in der dritten Generation Schäden«, sagte Franke, der die These, Traumata seien quasi genetisch vererbbar, für Unsinn hält: »Da wird gequatscht von Leuten, die keine Ahnung haben.«

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