Kichern auf Rädern

Eine Reise im chinesischen Nachtzug sollte jeder mal gemacht haben. Habe ich gelesen. Sagen wir mal: Es war eine Erfahrung. Auf jeden Fall ist es billig: Die gut 1600 Kilometer von Shenzhen nach Shanghai kosten keine 50 Euro. Hätte ich das Ticket nicht schon in Deutschland gekauft, wäre es wohl noch billiger gewesen. Es geht auch dreimal so teuer, wenn man den Hochgeschwindigkeitszug nimmt. Dann ist man in nicht mal acht Stunden da. Ich Sparfuchs brauche 19. Dafür muss ich keine Unterkunft zahlen, denn geschlafen wird auf der Pritsche.

Im Waggon ist das Gewusel groß. Je drei Liegen hängen übereinander - und 150 Menschen verstauen ihr Gepäck. Türen zwischen den Abteilen gibt es nicht. Das wird ein Spaß. Mein Bett ist ganz oben. Mit meinen eins neunzig kann ich dort nicht sitzen. Schon das Umdrehen, um wieder runterzukommen, dauert minutenlang. Unten angelangt ernte ich mitleidige Blicke einer Mittvierzigerin im leuchtend blauen Hemd. Sie flüstert ihrem Mann ins Ohr und beide kichern. Die Schadenfreude habe ich verdient, die Liegen ganz oben waren die billigsten.

Immerhin überredet sie ihren Mann, der mir gegenüber schlafen wird, den einzigen ausklappbaren Sitz des Abteils an mich zu übergeben. Sie hat ein Bett ganz unten, da kann er ja neben ihr sitzen. Den Klappsitz gebe ich die nächsten sieben Stunden nicht mehr her. Da es noch hell ist, schau ich aus dem Fenster. Raus aus Shenzhen sehe ich endlich mal Grün: Urwälder - und alle 30 Minuten eine Millionenstadt.

Ich erkenne Reisfelder, dazu Bauern mit diesen breiten Hüten und Balken über den Schultern, an deren Enden große Eimer hängen. Endlich sehe ich das richtige China, denke ich. Dabei wird nur mein Vorurteil bestätigt. Die Abertausenden westlich gekleideten Chinesen, die mir in der vergangenen Woche über den Weg liefen, verkörpern das heutige China wohl viel mehr als die Bauern hier.

Ich werde hungrig und bin dankbar für den kleinen Speisewagen, der pro Stunde einmal durch den Zug geschoben wird. Neben Obst und Snacks gibt es Instantsuppen. Ich nehme eine. »Six«, sagt die Verkäuferin und zeigt aufs Preisschild. Sechs Yuan, 75 Cent, für eine volle Mahlzeit. Das heiße Wasser gibt’s am Wagenende kostenlos. Ich kaufe auch ein paar Erdnüsse. Die Frau sagt wieder: »Six.« Ich bezahle brav. Als sie weg ist, schaut die Frau in Blau auf die Nussverpackung und zeigt nur zwei Finger hoch. Ich wurde übers Ohr gehauen. Wieder Getuschel, wieder Gekicher. Die Suppe ist scharf. Aber ich lasse mir nichts anmerken. Ein drittes Kichern würde ich nicht ertragen.

Es ist 19 Uhr, draußen wird es dunkel, und alle legen sich hin. Auch ich klettere hoch und kuschel mich ein, denn die Klimaanlage dröhnt laut und kalt von der Decke, und damit leider nur 30 Zentimeter über mir. Dazu das Schnarchen meines Nachbarn … Um 23 Uhr denke ich: Das macht doch nicht so viel Spaß. Aber einen schönen Tagebucheintrag im »nd« wird es schon hergeben. Ich sollte die Frau in Blau morgen früh noch nach ihrem Namen fragen. Als mich der Schaffner um sieben unsanft weckt, sind sie und ihr Mann verschwunden. Sie müssen irgendwo mitten in der Nacht ausgestiegen sein. So bleibt sie doch für immer die Frau in Blau. Dafür liegt nun eine junge Chinesin gegenüber, die nicht schnarcht. Deswegen habe ich doch noch ganz gut schlafen können.

Als ich später im Hotel ankomme, falle ich trotzdem noch mal ins Bett. Lustig war es allemal. Wenn auch nicht immer für mich.

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