Arbeit macht häufiger krank

Immer weniger Gewerbeärzte sind für die Anerkennung von immer mehr Fällen von Berufskrankheiten zuständig

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 3 Min.

Arbeit macht immer häufiger krank. Wurden im Jahr 2017 noch 75 187 Fälle von Berufskrankheiten angezeigt, so waren es vergangenes Jahr 77 877. Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der LINKEN hervor, die »neues deutschland« vorliegt. Damit ist die Zahl der angezeigten Fälle in den letzten zehn Jahren massiv angestiegen. Sie ist um rund 28 Prozent beziehungsweise 17 141 Fälle höher als im Jahr 2008. Gleichzeitig sank die Zahl der Gewerbeärzte, die letztlich über die Anerkennung einer Berufserkrankung entscheiden sollen, massiv.

Bei weitem nicht jede Krankheit, die man bekommt, weil die Arbeit zu schwer, zu viel und zu stressig ist, wird auch als Berufskrankheit anerkannt. Dies liegt zum einen daran, dass dies kein medizinischer, sondern ein rechtlicher Begriff ist. Als solche Erkrankungen gelten in der Regel nur jene, die in der Berufskrankheiten-Verordnung aufgelistet sind. Dies sind derzeit rund 80 Krankheiten. Psychische Störungen wie Burn-out durch zu viel Stress fallen jedoch nicht darunter. Zum anderen ist es ein langer und komplizierter Weg mit vielen Hürden, bis ein Leiden als Berufskrankheit anerkannt wird.

Betroffene müssen von der Meldung bis zur Anerkennung ein System der zweistufigen Begutachtung durchlaufen, das im Schnitt vier bis fünf Monate dauert. Bei manchen Krankheiten beträgt die Bearbeitungszeit im Schnitt sogar 40 Monate. Hinzu kommt, dass es für die Betroffenen oft schwierig zu beweisen ist, dass sie aufgrund ihres Berufs erkrankt sind. Häufig ist dies zum Beispiel bei Krebserkrankungen wegen Arbeiten mit Asbest der Fall, die zwei, drei Jahrzehnte zurück liegen.

Die Folge: Nur rund ein Viertel der angezeigten Fälle wird auch als Berufskrankheit anerkannt. Gerade die beiden häufigsten Berufskrankheiten - Haut- und Rückenleiden - werden selten anerkannt, weshalb die Betroffenen nur selten die ihnen von der Unfallversicherung zustehenden Leistungen bekommen.

Bei Hautkrankheiten von Friseuren zum Beispiel, die häufig Haare waschen, liegt die Anerkennungsquote derzeit nur bei 2,4 Prozent. So wurden 2018 lediglich 505 der 21 101 gemeldeten anerkannt. Lendenwirbelsäulenleiden, von denen häufig Pflegekräfte aufgrund schweren Hebens und Tragens betroffen sind, werden nur in 7,1 Prozent aller Fälle anerkannt.

Hier will der Gesetzgeber nun tätig werden. Das Bundesarbeitsministerium hat jüngst einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Ein Kabinettsbeschluss ist noch für dieses Jahr geplant. Insbesondere soll für Hautkrankheiten und Lendenwirbelsäulenleiden der sogenannte Unterlassungszwang wegfallen. Dieser besagt, dass die Betroffenen ihre Berufserkrankung nur anerkannt bekommen, wenn sie ihren Beruf aufgeben. Doch das machen nur wenige, weil sie dann kein Geld mehr verdienen. Stattdessen gehen die meisten trotz ihrer Erkrankung weiterhin ihrer krankmachenden Tätigkeit nach.

»Endlich packt die Bundesregierung die Reform der Berufskrankheiten an. Dass der Unterlassungszwang wegfällt, ist richtig und längst überfällig«, erklärt die Sprecherin für Mitbestimmung und Arbeit der LINKE-Bundestagsfraktion, Jutta Krellmann. Die Reform werde für Tausende Versicherte Verbesserungen bringen. Damit werde eine jahrelange Forderung von Betroffenen, Gewerkschaften und ihrer Fraktion erfüllt.

Laut Krellmann greift die Reform aber letztlich zu kurz: »Staatliche Kontrollbehörden bluten weiter aus und die Bundesregierung schiebt die Verantwortung an die Länder ab.« So geht die Zahl der Gewerbeärzte seit Jahren zurück. Auch 2018 sank sie wieder um vier - auf nur noch 64. Im Jahr 1997 waren es noch 158. In Bremen gibt es gar keinen Gewerbearzt mehr, in ganz Niedersachsen nur noch einen. Dabei fällt den Gewerbeärzten eine wichtige Aufgabe zu. Sie sind in der Regel Beamte eines Bundeslandes und sollen als unabhängige und zugleich fachlich qualifizierte Kontrollinstanz eigentlich letztlich über die Anerkennung einer Berufskrankheit entscheiden. Doch wenn ein Arzt im Schnitt für 600 000 Arbeitnehmer zuständig ist, kann davon nicht mehr die Rede sein. Stattdessen gilt meist das Wort der Gutachter der Unfallversicherungen. Und weil deren Träger die Berufsgenossenschaften sind, haben sie ein Interesse, die Zahl der Anerkennungen gering zu halten.

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