Wer hat die Macht?

Am Donnerstag ist Halloween. Eine Suche nach den Hexen unserer Zeit

  • Marie Hecht
  • Lesedauer: 6 Min.

Ich kann entscheiden, ob ich Angst vor meinen Kräften habe, oder ich nutze sie.» Ein Satz, der ohne Zweifel in einem Empowerment-Workshop fallen könnte. Oder eben in «Chilling Adventures of Sabrina», der Netflix-Serie die von dem Leben einer Teenage-Hexe erzählt. Beide Szenarien liegen nicht so weit voneinander entfernt, denn sowohl im Empowerment-Workshop als auch beim Thema Hexen geht es vor allem um eins: eine Verhandlung der Machtfrage.

Das Markieren von Menschen als Hexen legitimierte seit der frühen Neuzeit rund 60 000 Hinrichtungen allein im europäischen Raum. Den Hexenverfolgungen fielen dabei aber nicht nur mehrheitlich Frauen zum Opfer.

Bis heute hält sich das Klischee der Hexe als einer zu fürchtenden Frau. Bilder, die dazu dienten und teilweise heute noch dazu dienen, starke und mächtige Frauen abzuwerten, um eine patriarchale Machtstellung zu sichern. Warum werden selbstbewusste und starke Frauen noch heute Hexen genannt?

Was es nicht alles für Bilder von Hexen gibt! Da ist die alte, buckelige, allein im Wald Lebende, die Kinder frisst. Die mit den langen roten Haaren, die verführt und einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Die «wilde» Hexe, die in «fremden» Sprachen murmelt und danach ein Huhn als Opfergabe köpft. Mit ihren lockigen dunklen Haaren, gern als Schwarze Frau oder Women of Colour dargestellt und gleichwohl rassistisch markiert und exotisiert.

Kein Wunder, dass bereits in den 70er Jahren die Frauenbewegung versuchte, den Begriff der Hexe umzukehren, ihn sich anzueignen und mit einer positiven Konnotation zu besetzen. Seitdem tauchten die Hexen nicht mehr nur in Märchen auf, sondern auch auf Demonstrationen, wie bereits 1968, als Demonstrantinnen mit schwarzen Spitzhüten die Börse in New York blockierten.

Der Slogan «Wir sind die Enkelinnen der Hexen, die ihr nicht verbrennen konntet» wird heute in den feministischen Kämpfen gegen Frauenmorde in Mexiko proklamiert oder auch auf den Straßen am 8.-März-Frauenkampftag in Berlin. Das Bild der Hexe gewinnt weiter an Popularität, und es wandelt sich. Es wird selbstbewusster, politischer und diverser. Und dabei mehr und mehr zu einem Vorbild der Selbstermächtigung.

«Die Hexe ist eine wichtige, vor allem weiblich konnotierte Figur, an der auch ständig Fragen von Machtverhältnissen, von Liebe, Hass und auch Geschlechterfragen abgehandelt werden», sagt Victoria Hegner. Die Kulturanthropologin erforscht seit 2012 die neuheidnische Hexenreligion im urbanen Kontext und veröffentlichte dieses Jahr die Ergebnisse ihrer Forschung in dem Buch «Hexen der Großstadt. Urbanität und neureligiöse Praxis in Berlin» (Transcript-Verlag).

Obwohl Hegner ihre Forschung auf die Religion der neu-heidnischen Hexen fokussiert, gibt es Überschneidungen mit den politischen und popkulturellen Präsenzen des Hexenbildes. Wenn man sie fragt, wer die moderne Hexe ist, antwortet Hegner: «Nicht ausschließlich, aber in der großen Mehrheit sind Hexen Frauen, die einer Naturreligion folgen und in weiten Teilen sehr stark feministisch orientiert sind. In der überwältigenden Mehrheit sind es Städter und Städterinnen, hoch intellektualisiert.»

Moderne Hexen tummeln sich heute trotz ihrer Verbundenheit mit der Natur in Großstädten und sozialen Netzwerken. Auch das Abbild der Hexe in der Popkultur wandelt sich. Die TV-Serie «American Horror Stories» zum Beispiel zeigt in ihrer dritten Staffel ein differenziertes und modernes Abbild der Hexen. Nicht nur in «Chilling Adventures of Sabrina», auch in der Neuauflage der Serie «Charmed - zauberhafte Hexen», die dieses Jahr mit einem nicht rein weißen Cast neu aufgelegt wurde, werden junge, starke und selbstbewusste Frauen zur Hexe.

Allgemein hat sich seit dem Ende der 90er Jahre durch den Erfolg von Joanne K. Rowlings Bestsellerreihe «Harry Potter» das Verständnis von Hexerei stark verändert. Hexen sind mittlerweile Podcaster*innen, Aktivist*innen und Rapper*innen.

«Don’t you fuck with my energy!» (Leg dich nicht mit meinen Energien an!), warnt die nordamerikanische Rapperin Princess Nokia 2016 provokant in dem Song «Brujas» (Hexen). Sie hat nigerianische und puerto-ricanische Wurzeln und bezeichnet sich als «Poetin und Hexe» und kombiniert diese Identität mit ihrem Verständnis von Empowerment aus sexistischen und rassistischen Strukturen. Hexe zu sein, kann plötzlich extrem cool sein.

Die Grenzen zwischen einer Identifikation mit der «Hexenreligion», die der englische Okkultist Gerald B. Gardner seit den 1950er Jahren propagierte, und der politischen, feministischen und sogar queer-feministischen Positionierung als Hexe, als unabhängiger und selbstbestimmter Mensch, verschwimmen heute sowohl in der Hexenpraxis als auch im feministischen und politischen Aktivismus. Mittlerweile ist es möglich geworden, dass sogar auf linken Wagenplätzen, einer Szene, die sich immer sehr stark von Spiritualität und Esoterik abgrenzte, Tarot-Karten gelegt werden.

«Ich kenne viele Frauen, die keine Hexen sind, aber an eine Göttin glauben, weil es für sie selbstverständlich geworden ist, dass das Göttliche weiblich sein kann», sagt Heloisa Avante, die als Lulu Saille in der Szene bekannt ist. Doch Hexe zu sein und sich als Hexe zu definieren, sei noch kein politischer Akt an sich.

Saille ist der keltische Name der Trauerweide: der Baum des Wassers. Diese Hexe hat dunkle gelockte Haare, ist unauffällig schwarz gekleidet und trägt Tattoos, von denen nur ein paar unverdeckt sind. Auf ihrem Brustkorb ist ein Mondzyklus zu sehen, auf ihrem linken Oberarm König Arthus mit seinem Schwert, und auf dem Rücken, erzählt sie, trage sie auch ein Pentagramm. Das sind Symbole, die sich in ähnlicher Form auch auf Instagram tummeln. Lulu Saille ist Hexe, Aktivistin, Mutter und arbeitet bei einem großen deutschen Unternehmen in der Öffentlichkeitsarbeit. Sie glaubt an «die Kraft, die uns alle verbindet», und feiert die acht Hexenjahreskreisfeste. Bei ihr zu Hause findet man kleine Amulette und Symbole. «Mit der weiblichen Eroberung ist die Frau immer emanzipierter geworden, und jetzt ist es an der Zeit zu erkennen, dass Frauen sogar Göttinnen sein können», meint sie. «Es ist nicht mehr nötig zu denken, dass nur Männer Macht haben können.» Für sie sei es undenkbar, Hexe und keine Feministin zu sein. Die maximale Regel als Hexe bleibe für sie jedoch: «Solange es niemandem schadet, tue was du willst.»

Eine ziemlich vage Regel. Sie macht es Außenstehenden schwer, zu begreifen, was hinter dieser Hexenreligion steckt. Auf der anderen Seite gibt diese Regel die Freiheit, für sich selbst zu definieren, was Religion und Spiritualität bedeuten. So finden sich in der Hexencommunity, neben teilweise konservativen Vorstellungen von Binarität auch queere Identitäten, die in den großen monotheistischen Religionen wenig Platz haben.

Andersherum gibt es in der queeren Szene Bezüge von Spiritualität und Hexentum, die sich in der Kleidung oder in kleinen Ritualen ausdrücken. Zur «Vollmond-Klangreise» im Hinterhof in Berlin kommen heute nicht nur Esos, Hexen und Fulltime-Spiris, sondern allerlei Menschen aus der Kunst- und Kulturszene.

Die moderne Hexe wird zu einer geschlechtslosen Ikone der Selbstermächtigung. Identitäten sind dabei fließend. Ebenso das, was man dabei unter «Spiritualität» versteht. Die sogenannten Hexen haben schon immer die herrschenden Machtsysteme provoziert.

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