Die Befreiung des Kapitals

Mit der Öffnung des Ostens wurde die Konkurrenz der Standorte global.

Der Fall der Mauer vor 30 Jahren ebnete nicht nur den Menschen des Ostblocks den Weg in den Westen. Der 9. November 1989 war auch der Startschuss für den großen Zug des Kapitals gen Osten. Mit der Mauer fielen schrittweise die geografischen Schranken der Marktwirtschaft, und aus Millionen realsozialistischer Werktätiger wurden abhängig Beschäftigte privater Unternehmen. Durch die Öffnung erst Osteuropas, dann Chinas und Indiens verdoppelte sich die global verfügbare Arbeitsbevölkerung, errechnete der Internationale Währungsfonds (IWF). Gegenüber 1980 hatte sie sich damit vervierfacht. Es war ein »massiver exogener Schock«, der Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit dauerhaft verschoben hat.

Bei ihrer Ankunft auf dem Weltmarkt brachten die östlichen Staaten Millionen Arbeitskräfte mit, aber wenig Kapital. Denn der Übergang zur Marktwirtschaft bedeutete gerade für Osteuropa eine massive Deindustrialisierung. Ganze Branchen erwiesen sich als unprofitabel und gingen unter. Als Mittel des Wachstums setzten Regierungen von Warschau bis Wladiwostok daher auf Investitionen der erfolgreichen Konzerne aus dem Westen. »Das führte dazu, dass weltweit mehr Arbeitnehmer darum konkurrierten, mit dem vorhandenen Kapital zu arbeiten«, erklärte der US-Ökonom Richard Freeman.

Multinationalen Konzernen eröffnete sich damit eine ganze Welt neuer Zulieferer, Absatzmärkte und billiger Arbeitskräfte, die zum Teil gut ausgebildet waren. Laut IWF stieg das Angebot an qualifizierter Arbeit um 50 Prozent. Die Unternehmen begannen, ihre Produktion ins Ausland zu verlagern und globale Wertschöpfungsketten zu knüpfen. So errichteten die deutschen Autobauer Werke erst in Osteuropa, später in China. »Deutschland: Exportweltmeister (von Arbeitsplätzen)«, titelte der »Spiegel« 2004.

Unterstützt wurden die Unternehmen dabei von der Politik, die Güter- und Kapitalverkehr liberalisierte und Zollschranken abbaute. Ergebnis: Zwischen den achtziger und den neunziger Jahren verdoppelten sich global die grenzüberschreitenden Direktinvestitionen und verdoppelten sich ein weiteres Mal zwischen 2000 und 2007. Angetrieben wurden die Unternehmen dabei von ihren Geldgebern, die immer größere Erträge verlangten: »Der wachsende Druck von den Finanzmärkten«, so der IWF, »führte zu einer Verschiebung der Überschüsse großer Unternehmen zu den Investoren.«

Der globalisierte Standortwettbewerb um Investitionen unterminierte die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer in den alten Industriestaaten. Denn das Kapital erwies sich als wesentlich mobiler als sie, auch dank technologischer Entwicklungen wie Containerschifffahrt oder Internet. Die Unternehmen wanderten nicht nur in Billiglohnregionen ab. Sie konnten zudem gegenüber ihren heimischen Belegschaften »glaubhaft drohen, Produktion und Arbeitsplätze nach Osteuropa zu verlegen«, erklärte Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Gleichzeitig verschärften die Einfuhren aus den neuen Niedriglohn-Regionen die Konkurrenz auch für jene Firmen, die nicht gen Osten expandierten.

Als Reaktion bauten viele Staaten des Westens Arbeitnehmer-Schutzrechte ab, um ihrerseits die Lohnkosten zu drücken. »Die Politik der Arbeitsmarkt-Deregulierung markiert einen grundlegenden Bruch mit der Nachkriegsentwicklung und repräsentiert eine Stärkung der Kapitaleigentümer gegenüber der organisierten Arbeit in Nordamerika und Europa«, schrieb John Peters von der Laurentian University in Ontario 2008.

All dies verschärfte eine große Umverteilung, die bereits in den frühen achtziger Jahren begonnen hatte: »Die finanzielle Globalisierung führte zu einer Absenkung des Anteils der Löhne an der Wirtschaftsleistung«, stellt die Internationale Arbeitsorganisation ILO fest. Die Lohnquote schrumpfte in den Industrieländern von knapp 75 Prozent Mitte der Siebziger auf 64 Prozent, errechnet der niederländische Entwicklungsökonom Rolph van der Hoeven. Die Produktivität der Arbeitnehmer in den Staaten des Industrieländerclubs OECD legte allein seit 1996 um 35 Prozent zu, ihr realer Lohn dagegen nicht einmal halb so stark. Im Gegenzug akkumulierten sich immer größere Anteile der Erträge bei den Unternehmen.

Teilweise kompensiert und überkompensiert wurden die relativen Lohneinbußen der Arbeitnehmer durch die Verbilligung der Produktion, die auch die Güter des täglichen Lebens preiswerter machte. Laut französischer Bank Société Générale sind seit 1995 die Preise insbesondere für Bekleidung, Haushaltsgeräte und Unterhaltungselektronik deutlich gesunken. »Diese Verbilligung geschah parallel zur Einbindung von Produktionslinien aus Niedrig-Lohn-Regionen, insbesondere Osteuropa und China.«

Zum einen veränderte sich also die Aufteilung des Reichtums zwischen Kapital und Arbeit - der Anteil der Unternehmensgewinne an der Wirtschaftsleistung ist stark gestiegen. Zum anderen verschoben sich auch die Verhältnisse zwischen den Arbeitnehmern. Die größten Einbußen durch den Globalisierungsschock erlitten gering qualifizierte Beschäftigte. Auf der anderen Seite standen jene gut Ausgebildeten, die für die Globalisierungsgewinner arbeiteten. Laut ILO liegen in den Industrieländern die Durchschnittslöhne in den vorderen zehn Prozent der Unternehmen doppelt bis fünf Mal so hoch wie in den untersten zehn Prozent. Ergebnis: Die Schere zwischen Gut- und Geringverdienern öffnete sich weit.

Und auch zwischen den Ländern kam es zu Verschiebungen: Die Schwellenländer holten gegenüber den Industriestaaten massiv auf. In den USA dagegen schrumpfte die Zahl der Industriebeschäftigten von 17 Millionen 1992 auf zuletzt etwa zwölf Millionen. In der gesamten OECD-Staatengruppe ist seit 1998 der Anteil der Industriebeschäftigten um ein Fünftel gesunken, in Frankreich sogar um ein Viertel. Viele Industriearbeiter wechselten notgedrungen in den Dienstleistungssektor - allerdings wird dort tendenziell schlechter gezahlt. Das Lohnniveau der Dienstleister in der OECD liegt etwa ein Fünftel niedriger als im Verarbeitenden Gewerbe. Auch diese Entwicklung erhöhte die Ungleichheit.

Als großer Gewinner der Globalisierung erwies sich die deutsche Industrie. Zwar führte der »Aufstieg des Ostens« auch hierzulande zu »substanziellen Job-Verlusten in jenen Regionen, die besonderer Konkurrenz durch Importe ausgesetzt waren«, so eine Untersuchung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Diese Verluste wurden aber überkompensiert durch Gewinne exportorientierter Branchen und Regionen.

Ganz anders in Südeuropa: Die Billigkonkurrenz aus dem Osten, insbesondere aus China, trieb zum Beispiel in Portugal viele Textilproduzenten in die Pleite. Denn Portugal war wie andere Länder der EU-Peripherie ein Exporteur von Zwischengütern mit relativ niedrigen Lohnkosten und konkurrierte daher direkt mit China. In Deutschland dagegen waren Textil- und Elektronikindustrie bereits zuvor geschrumpft. Von der Öffnung des Ostens profitierten die deutschen Unternehmen zum einen, indem sie Importe aus Südeuropa schlicht durch billigere Lieferungen aus dem Osten ersetzten. Zum anderen eröffnete sich der hiesigen Industrie ein gigantischer Absatzmarkt: Die Autobauer lassen heute vornehmlich im Ausland produzieren, China ist der größte Absatzmarkt von VW, Daimler und BMW. Der deutsche Maschinenbau exportiert fast 80 Prozent seiner Produktion.

Die Öffnung des Ostens war also »ein Wendepunkt in der Wirtschaftsgeschichte«, so US-Ökonom Freeman. Sie entfesselte die globale Konkurrenz zwischen Standorten, Unternehmen und Beschäftigten. Ökonomen bewerten das als Erfolgsgeschichte, schließlich ist die globale Wirtschaftsleistung massiv gestiegen. Der Reichtum ist größer geworden, aber auch prekärer, was sich in den Industrieländern in der Zunahme von Stress, Zukunftssorgen und »psychischen Krankheiten« ausdrückt. Die wachsende Ungleichheit hat zu einem neuen Verteilungskampf auf dem Weltmarkt geführt, der sich langsam zu einem »neuen kalten Krieg« zwischen den USA, China und Europa auswächst, so das Peterson Institute in Washington. Die Kontrahenten von heute trennt keine Mauer mehr.

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