Atomlobby macht auf Klimabewegung

Regierungen in Europa sind nicht auf die Kosten und Risiken der Kernenergie eingestellt

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Endlagerung von hoch radioaktivem Atommüll stellt Regierungen weltweit vor große, bisher nicht ansatzweise gemeisterte Herausforderungen. Das birgt auch unkalkulierbare technische, logistische und finanzielle Risiken, wie aus dem am Montag veröffentlichten »World Nuclear Waste Report - Focus Europe« hervorgeht. Allein in Europa - ohne Russland und die Slowakei - werden demnach mehr als 60 000 Tonnen abgebrannter Brennstäbe weiterhin nur in Zwischenlagern gebunkert, weil kein Land bislang ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle in Betrieb genommen hat. Dem Report zufolge sind zudem in Europa bislang mehr als 2,5 Millionen Kubikmeter schwach- und mittelradioaktive Abfälle angefallen. Über ihre gesamte Lebensdauer hinweg produzieren die europäischen Atomkraftwerke insgesamt rund 6,6 Millionen Kubikmeter an strahlendem Müll.

Der Report wurde von einem Dutzend internationaler Wissenschaftler verfasst. Er ergänzt den etablierten »World Nuclear Industry Status Report«, der jedes Jahr von einem Team um den Atomexpertenteam Mycle Schneider herausgeben wird. »Weltweit wächst die Menge an Atommüll«, sagte die langjährige Grünen-Europa-Abgeordnete Rebecca Harms. Auch 70 Jahre nach Beginn des Atomzeitalters habe kein Land der Welt eine wirkliche Lösung für die strahlenden Hinterlassenschaften und weiteren Risiken der Atomkraft gefunden.

Dessen ungeachtet wittert die Atomlobby vor dem Hintergrund der Klimakrise wieder Morgenluft. Unter dem Motto »Sundays for Future« wurden am 20. Oktober weltweit Aktionen der internationalen Atom-Lobby-Organisation »Nuclear Pride Coalition« organisiert. Mit vorgeschobenen Klimaargumenten gab es etwa in Paris, London, Amsterdam, Toronto, New York und München Pro-Atom-Propaganda zu sehen und zu hören.

Vorfeldorganisationen der Atom- und Kohleindustrie, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Stiftungen und industrienahe Schein-Bürgerinitiativen wie »Nuclear Pride« und die »Bürger für Technik« engagieren sich scheinbar unabhängig für Atomkraft und Kohlekraftwerke und bekämpfen die umweltfreundliche Energien. Zu den Fürsprechern der Atomkraft gehört auch Bill Gates. Er soll sich, wie die »Washington Post« berichtete, kürzlich mit Abgeordneten des US-Kongresses getroffen haben, um sie von den vermeintlichen Vorzügen der Atomenergie zu überzeugen. In einem offenen Brief an Angestellte schrieb er: »Kernenergie ist ideal, um dem Klimawandel zu begegnen, weil es die einzige CO2-freie, skalierbare Energiequelle ist, die 24 Stunden am Tag verfügbar ist.« Microsoft-Gründer Gates, der als zweitreichster Mann der Welt gilt, besitzt die Firma TerraPower, die an neuartigen Reaktoren forscht.

Umweltverbände und Anti-Atom-Organisationen wie »Ausgestrahlt« haben die vermeintlichen Klimaargumente einem Faktencheck unterzogen. Ihr Fazit: Alle AKWs auf der Welt decken gerade mal zwei Prozent des weltweiten Energiebedarfs. Soll dieser Anteil auch nur gehalten werden, müssten quasi monatlich neue AKWs in Betrieb genommen werden und alte dürften nicht vom Netz gehen, weil der Energiebedarf ja steigt.

Um die Erderhitzung auf zwei Grad zu begrenzen, müssten die weltweiten CO2-Emissionen von heute 37 Milliarden Tonnen bis 2050 auf unter fünf Milliarden Tonnen sinken. Zu diesem Szenario könnte Atomkraft nach Angaben des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie gerade mal fünf Prozent beitragen. Und selbst dafür müssten tausend AKWs neu gebaut werden - eine absurde Vorstellung.

Zudem ist Atomkraft gar nicht klimaneutral. Der Abbau, das Zermahlen, das Aufbereiten und Umwandeln von Uranerz zu Reaktorbrennstoff verursacht ebenso Emissionen wie die Behandlung und Lagerung der radioaktiven Abfälle, der Abriss der AKWs und die Renaturierung der Uranfördergebiete. Mit fortschreitender Ausbeutung der Uranminen verschlechtert sich die Bilanz zuungunsten der Atomkraft.

Schließlich ist Atomkraft extrem gefährlich und teuer. Auch im sogenannten Normalbetrieb geben AKWs Radioaktivität an die Umwelt ab. Die von der Atom- und Kohlelobby massiv bekämpften alternativen Energiequellen sind inzwischen viel kostengünstiger als Atomstrom. Betriebswirtschaftlich lohnt sich der Bau von AKWs längst nicht mehr, die Kosten haben sich vervielfacht. Deswegen gehen Reaktoren auch fast nur noch in Diktaturen, Halbdiktaturen und in Ländern, in denen die Atomindustrie staatlich ist, neu ans Netz.

Die viel bemühte Entwicklung neuer, nun aber wirklich absolut sicherer Reaktortypen wie etwa Fusionsreaktoren, stockt. In den nächsten 20 Jahren stehen diese Technologien nicht zur Verfügung.

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