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»Europarechtlich betreten wir Neuland«
Der Europaabgeordnete Helmut Scholz zur EU-Zukunftskonferenz, zu möglichen Ergebnissen und zu Herausforderungen für die Linken
Am Mittwoch wird das Europäische Parlament über die Konferenz zur Zukunft Europas diskutieren und entscheiden. Die letzte ähnliche Konferenz, der Konvent zur Europäischen Verfassung, ging damit aus, dass der Verfassungsvertrag an Volksabstimmungen scheiterte.
Wir sind heute in einer völlig anderen Situation als vor knapp 20 Jahren, als der Verfassungsvertrag ausgearbeitet wurde. Aus Sicht des Europäischen Parlaments soll die Zukunftskonferenz auch ganz ausdrücklich kein Konvent sein, der sich aus Abgesandten verschiedenster nationaler und europäischer Institutionen zusammensetzte. Es soll vielmehr eine wirklich breite demokratische Aussprache über zwei Jahre geben. Wir wollen, anders als die Idee der Kommissionspräsidentin, keine Themen vorgeben, sondern einen Einstieg für die Beratung und die Erarbeitung praktischer Vorschläge zu all jenen Punkten ermöglichen, die den Bürgerinnen und Bürgern wirklich auf den Nägeln brennen. Das wiederum soll in thematischen Agoras, Bürgerversammlungen, geschehen, ein Bezug also zu diesem Instrument der alten griechischen Demokratie.
Das heißt, die Bürgerinnen und Bürger sollen selbst festlegen, über welche Themen sie mit den Vertretern der EU-Institutionen reden wollen?
Die Struktur der Konferenz ist nicht ganz leicht zu fassen. Es soll keine scheindemokratische Übung sein – übrigens ein Verdacht, der auch von manchen Linken geäußert wird. Die Konferenz, so der EP-Vorschlag, soll als permanenter Raum zweigeteilt stattfinden, und zwar in Bürgeragora und sogenannter Plenarkonferenz, die im ständigen Diskurs miteinander stehen. Als Gegenstück zu den Agoras werden wir in der Plenarkonferenz die repräsentative Demokratie widergespiegelt sehen, d.h. durch Abgeordnete aus dem Europäischen Parlament, aus den nationalen Parlamenten, aber auch durch Regierungsvertreter*innen aus allen Mitgliedsstaaten für den Rat, den drei zuständigen Kommissaren Suica, Jourova und Sefcovic sowie durch Vertreter*innen des Ausschusses der Regionen, des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und der sozialen Partner. Das hieße ungefähr 250 Teilnehmer*innen.
Jeweils in beiden Gremien?
In dieser Plenarkonferenz. Die strikt genderquotiert daherkommt. Das Gleiche gilt auch für die Bürgeragora, die ihrerseits übrigens jeweils per Losverfahren unter Berücksichtigung der sozioökonomischen, demographischen und regionalen Vielfalt entsprechend zusammengesetzt wird. Und zwar nicht von politischen Gremien oder Regierungsstellen.
Wie werden beide Konferenzen zusammengeführt? Sie sollten ja nicht aneinander vorbei diskutieren.
Von Parlamentsseite bestehen wir auf umfassende Transparenz. Deshalb ist vorgeschlagen, dass alles gestreamt wird, dass alle Materialien öffentlich zugänglich sind und die Bürgeragora nicht nur an einem Ort stattfinden, sondern parallel in verschieden Mitgliedsstaaten der EU. Das wird natürlich ein Riesenunterfangen und die Logistik muss erst noch ausgetüftelt werden. Aber vor allem: Ein solcher Diskurs darf nicht folgenlos bleiben, er könnte auch zu Gesetzesänderungen, wenn notwendig zu Vertragsänderungen, vielleicht zur Neubestimmung der Kompetenzen der EU führen. Ein Beispiel zu Letzterem: Macht man den Energiemix in der Zukunft wirklich europäisch, damit es ein realer Energiemix ist, oder belässt man es bei einer allgemeinen Rahmenorientierung für die Mitgliedsstaaten? Kurzum: Alles, was gegenwärtig in der EU-Politik auf dem Prüfstand steht, ist mit dieser Zukunftskonferenz zu verbinden.
Wie soll das praktisch funktionieren? Also die Agoras tagen, legen bestimmte Themen fest und dann gehen ihre Abgesandte in die Plenarkonferenz und stellen die Schwerpunkte dort vor?
Auch die Plenarkonferenz ihrerseits diskutiert die Themen, die aus Sicht der Parlamente, des Rates, der Kommission wichtig für die Zukunft Europas sind. Das kann aber eben nicht losgelöst geschehen von der Debatte in der Agora. Insofern ist dieser bürgerschaftlich getriebene Prozess der eigentliche Mechanismus, um den es geht, und deshalb hat das Europaparlament versucht, sehr stark diesen Ansatz nach vorne zu bringen. Vertreter*innen der Agora berichten in die Plenarkonferenz, und genauso muss es umgedreht erfolgen.
Sie haben verschiedene mögliche Ergebnisse der Konferenz angesprochen. Welches Gremium entscheidet, was unterm Strich steht?
Das wird die Konferenz selbst bestimmen müssen. Sie muss empfehlen, dass man dann eventuell die Ergebnisse wiederum in einen Konvent einbringt. Das ist ja eine institutionalisierte Form mit festgefügten Vertreter*innen aus den dann 27 Mitgliedsstaaten.
Damit besteht doch wieder die Gefahr, dass letztlich jene entscheiden, die das immer tun.
Die Bürgeragora bekommen ja ein Feedback aus der Plenarkonferenz und werden sich dazu verhalten. Damit haben sie auch die Möglichkeit, auf die Schlussfolgerungen, die in der Plenarkonferenz dann zusammengefasst werden, Einfluss zu nehmen. So wollen wir als Parlament gewährleisten, dass Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der repräsentativen Demokratie ein reales und aktives Mitspracherecht haben.
Das klingt alles recht kompliziert.
Es klingt sicherlich kompliziert. Aber es ist ein neuer Ansatz und europarechtlich betrachtet betreten wir Neuland. Und wir wissen als Europäisches Parlament auch noch nicht, ob Kommission und Rat diesem Weg folgen wollen. Es ist ein Mechanismus, der zumindest alle Akteure ermutigt und befähigen soll, ihrerseits in die Gesellschaft hinein Vorstellungen für eine künftige EU zu unterbreiten. Daher sehe ich die Zukunftskonferenz nicht nur als Chance, sondern auch als Aufgabe für die LINKE, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie wir uns bei Fragen, die im Laufe der Konferenz aufbrechen werden, einbringen können. Und zu überlegen, wo wir gemeinsam auch mit anderen linken Parteien, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und anderen politischen Akteuren die Möglichkeit haben, unsere Utopien, Positionen und konkreten Vorschläge in die Zukunftskonferenz einzubringen.
Auch Populisten und rechte Kräfte werden versuchen, die organisierte Zukunftsdebatte für sich zu nutzen.
Es wäre ganz sicher sträflich, kritische Stimmen am Ist-Zustand der Europäischen Union und an der Ausrichtung der Integration auszublenden. Denn wenn wir uns diesen Fragen nicht stellen, werden die Populisten an Boden gewinnen. Schauen wir doch, was Johnson in Großbritannien gemacht hat. Er hat eben nicht eine ehrliche Debatte über die ursächlichen Beziehungen zwischen nationaler, solidarischer Politik und der Teilhabe am europäischen Integrationsprozess gesprochen, er hat ein Gegeneinander aufgemacht. Genau das darf nicht stattfinden. Insofern schafft nur ein breiter Diskurs die Möglichkeiten, über den Zustand der heutigen EU hinauszugehen und neue Grundlagen für das solidarische Zusammenleben der Menschen auf unserem Kontinent, zukunftsoffen, rechtlich-verbindlich zu regeln.
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