Entscheidende 90 Minuten

Neue Dauerausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz mit inklusivem Anspruch.

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 4 Min.

Die durchschnittliche Besuchsdauer in unserem Haus beträgt bisher 30 Minuten«, erklärt Elke Gryglewski, stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte im Haus der Wannsee-Konferenz. Es sind noch wenige Tage, bis am Sonntag die neue Dauerausstellung eröffnet wird - zum 78. Jahrestag des Ereignisses am 20. Januar 1942, das der Bildungsstätte ihren Namen gab. Sie soll Besucher*innen, die sich mit diesem wesentlichen Teil der Vernichtungsgeschichte der europäischen Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten befassen wollen, nicht nur einen Anreiz geben, etwas länger zu bleiben. Mit der neuen Dokumentation sollen vor allem deutlich mehr Menschen als bisher erreicht werden.

Noch sind nicht alle Videomonitore in Betrieb, und es wird an den letzten Teilstücken des zukünftigen Leitsystems durch die untere Etage der Gedenkstätte gearbeitet. Direktor Hans-Christian Jasch gewährt vorab einen Einblick in die künftige Wissensvermittlung am authentischen Ort. »Wir wollen hier die Geschichte so erzählen, dass sie für ein sehr breites Publikum verständlich wird«, erklärt Jasch. Das »Verwaltungsmäßige« der Organisation und der Durchführung des Holocaust soll genauso hervorgehoben werden wie der Umstand, »dass das Ganze nicht zentral gesteuert wurde, sondern es einen hohen Grad gesellschaftlicher Partizipation« gab. »Wissenschaftlich belegt sind viele Motive und Ziele, mit denen sich Menschen an den Morden und der Verfolgung der Juden und Jüdinnen beteiligt haben«, so Jasch.

Fünfzehn Männer diskutierten hier, in der Villa Am Großen Wannsee 56-58, am 20. Januar 1942 offen den Mord an etwa elf Millionen jüdischen Menschen. Eine Runde aus Vertretern der Reichs- und Besatzungsbehörden sowie Polizei und SS verhandelte in anderthalb Stunden die Massenvernichtung aller jüdischen Menschen in Europa. Der Ort war nicht zufällig gewählt, die großbürgerliche Villa mit Blick auf den See diente von 1941 bis 1945 der SS als »Gäste- und Erholungsheim«. Bis Kriegsende residierten hier hochrangige SS-Funktionsträger.

Nach Jahrzehnten der Nachkriegsnutzung als Schullandheim befindet sich hier seit 1992 eine Bildungs- und Gedenkstätte. Bemühungen um ein Dokumentationszentrum hatte es schon lange vorher gegeben, unter anderem durch den jüdischen Berliner Historiker Joseph Wulf. In den vergangenen 28 Jahren wurde die ständige Ausstellung einige Male erneuert. Die letzte Version stammte aus dem Jahr 2006.

Mit der nun öffnenden Dauerausstellung will das Team um Jasch einen gänzlich neuen Weg der Vermittlung von anspruchsvollen historischen Inhalten gehen. Die Kleinteiligkeit und hohe Textlastigkeit der bisherigen Dokumentationen zur Besprechung am Wannsee überforderte viele Besucher*innen. Man ist im Haus zwar schon lange darum bemüht, innovative Bildungs- und Vermittlungskonzepte zu etablieren - die berufsgruppenspezifischen Angebote für Erwachsene sind hierfür nur ein Beispiel. Aber ohne historische Vorbildung gelang es kaum, sich die Ausstellungsinhalte selbstständig zu erschließen.

»Die vielen Menschen, die die alte Ausstellung nach etwa einer halben Stunde verlassen haben, sind nicht gegangen, weil sie sich nicht dafür interessieren«, erklärt Elke Gryglewski. Im Gegenteil, an manchen Tagen im Sommer kämen täglich bis zu 600 Besucher*innen. »Aber die meisten lesen sich sofort in die ausgestellten Dokumente ein und stellen nach einer halben Stunde fest: ›Hier komme ich sowieso nicht durch alles durch.‹« Das soll sich nun ändern. Gryglewski hat dafür, gemeinsam mit den Mitarbeiter*innen der Gedenkstätte und einem großen Team aus Berater*innen- und Kurator*innen, vor dem Hintergrund breit angelegter Besucherforschung ein Konzept erarbeitet. Dieses soll allen Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedarfen gerecht werden. »Wir wollten eine Ausstellung im ›Design für alle‹«, so die Leiterin der Bildungsabteilung der Gedenkstätte. Um das zu erreichen, waren auch zahlreiche Verbände wie der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband oder die Lebenshilfe eingebunden.

Mit ihrer Hilfe ist in den vergangen drei Jahren eine Ausstellung entstanden, die ein beeindruckendes Maß an Zugänglichkeit aufweist: Sie ist formuliert in klarer und leichter Sprache, der verwendete Schrifttyp garantiert ein hohes Maß der Lesbarkeit für Menschen mit Sehbehinderung oder Lernschwierigkeiten. Anstreichungen, Stempel und Anweisungen, die die Machtgefüge nationalsozialistischer Täterschaft chiffrieren, werden verständlich erklärt. Auch ist ein Großteil des Geländes und der Villa barrierefrei. Kostenlose Audio- und Mediaguides in leichter Sprache und Gebärdensprache, Kopfhörer für Menschen mit Hörbehinderungen und ein taktiles Bodenleitsystem, mit dem sich sehbehinderte oder blinde Menschen orientieren können, komplettieren den integrativen Charakter der Ausstellung. 2,1 Millionen Euro wurden dafür von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin und der Bundesregierung zur Verfügung gestellt.

Direktor Hans-Christian Jasch würde sich freuen, wenn Besucher*innen zukünftig 90 Minuten in der Ausstellung verweilen - genauso lang, wie hier vor 78 Jahren die systematische Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen verhandelt wurde. Angesichts des aktuellen Erstarkens von Antisemitismus, Rassismus und anderer gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit eine Zeit, die man sich nehmen sollte.

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