Wie schuldig ist der »Stellvertreter«?

Der Vatikan öffnete das Archiv von Papst Pius XII.

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

1942 spricht SS-Obersturmführer Kurt Gerstein beim Nuntius in Berlin vor. Die katholische Kirche solle ihre Stimme gegen die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden erheben. Gerstein findet kein Gehör beim Botschafter des Vatikan. Weshalb der Jesuitenpater Riccardo nach Rom reist, um den Papst auf den Völkermord aufmerksam zu machen. Doch auch der Stellvertreter Gottes schweigt. In seiner Verzweiflung heftet Riccardo sich einen Judenstern an die Soutane, klettert in einen Viehwaggon. Der rollt nach Auschwitz ... Das ist der Inhalt von Rolf Hochhuths »Der Stellvertreter«. Das »christliche Trauerspiel« wurde 1963 im damaligen Westberliner Haus der Freien Volksbühne uraufgeführt. Regie: Erwin Piscator.

Das Stück löste Entsetzen aus. Und Protest. Seitdem verstummen die Fragen nicht mehr: Was wusste Papst Pius XII., der zwischen 1939 und 1958 oberster katholischer Würdenträger und Regent des Vatikans war, über den Holocaust? Hat er geschwiegen zum Völkermord an sechs Millionen europäischen Juden? Wie ist das mit einem für Radio Vatikan gedachten Text wider das Unfassbare, den der Autor vor Verlesung im Kamin verbrannte? Die Geschichte bezeugte Pascalina Lehnert, seine Haushälterin.

Helfer, aber für wen?

Manche Historiker aber glauben, Pius XII. habe im Stillen gehandelt. So soll er Tausenden italienischen Juden das Leben gerettet haben, weil er Klöster aufforderte, Verfolgte aufzunehmen. Belege? Bislang gibt es keine. Welche politischen Deals hat der Papst überhaupt mit dem Hitler-Regime geschlossen und wie antisemitisch war der Mann, der sich der damals herrschenden katholischen Lehre unterworfen hatte?

Interessant auch die Zeit nach dem Ende des Hitler-Regimes. Wie groß ist der Anteil von Pius XII. an der »Rattenlinie«? Auf der wurden nicht nur mit dem Segen des Vatikans Nazi- und Kriegsverbrecher ins sichere Ausland geschmuggelt. So gelangten Adolf Eichmann (Logistiker des Massenmordes), Franz Stangl (Kommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka), Josef Mengele (der sadistische Lagerarzt von Auschwitz), Walther Rauff (Erfinder der Gaswagen-Mordmaschinen), Otto Pape (der Geiselmörder aus den Ardeatinischen Höhlen), Klaus Barbie (Schächter in Lyon) und viele andere schuldbeladene SS-Verbrecher in arabische Länder und nach Südamerika.

Für den Vatikan ist die am Montag vollzogene Öffnung des Apostolischen Archivs über die Amtszeit von Pius XII. ein quälender Prozess. Johannes Paul II. hatte diese Möglichkeit erstmals erwogen, Papst Benedikt bedachte sie in alle Richtungen, Franziskus überwand im vergangenen Jahr den Widerstand der Verschweiger und versprach ab 2. März 2020 Transparenz.

Ziel sei es, dass »seriöse und objektive« Forschung die »glänzenden Momente dieses Papstes ebenso wie die Momente größter Schwierigkeiten« im rechten Licht und mit der angemessenen Kritik beurteilen könne. Gab der aktuelle Papst damit vorsichtshalber schon einmal das erhoffte Ergebnis der Untersuchungen vor? Pius, so Franziskus, habe versucht, »in Zeiten größter Dunkelheit und Grausamkeit die kleine Flamme humanitärer Initiativen wach zu halten«. Mag sein, doch sicher ist das keineswegs.

Das Verhältnis zwischen dem Vatikan und dem sogenannten Dritten Reich ist zwar schon umgehend untersucht worden, doch mit höchst unterschiedlicher Intensität und Wahrhaftigkeit.

Sicher ist, dass die katholische Kirche den Nationalsozialismus kritisierte - zur Endzeit der Weimarer Republik. Als Hitler an der Macht war, erhoffte sich der Vatikan von dem 1933 vereinbarten Konkordat einen gewissen Schutz der katholischen Kirche.

Ausgehandelt hat den Vertrag Kardinalstaatssekretär Pacelli, der oberste Diplomat des Vatikans und spätere Pius XII. Doch die Übergriffe der Nazis auf Kirchenleute nahmen zu. »Mit brennender Sorge« verurteilte noch Pius XI. 1936 die Vertragsbrüche. Dabei dachte die Kirche an ihre Rechte. Dass sie als Institution politisch oder rassisch Verfolgte grundsätzlich zu schützen versuchte, ist nicht bekannt.

Auch klare Verurteilungen der Nazis als Entfessler des Zweiten Weltkrieges sind kaum zu finden. Bekannt dagegen ist, dass Pius XII. Angst vor Kommunisten hatte. Hat er deshalb angewiesen, den Kommunismus zu bekämpfen, wo immer es geht? Hat er wirklich zugestimmt, dass der Vatikan im beginnenden Kalten Krieg westliche Geheimdienste bei der Infiltration der Sowjetunion und anderer Staaten unterstützte? Oder geschah das alles hinter dem Rücken des Chefs?

Die Fragen sind gestellt, sie drängen die Forscher. Doch Antworten brauchen wohl Geduld. Das Archiv umfasst viele tausend Seiten.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal