Ein Überleben mit Hindernissen

Wie «Neues Deutschland» die Wende meisterte, indem es der Treuhand entkam .

  • Mandy Tröger
  • Lesedauer: 7 Min.

Niemand gibt der Treuhand das Recht, Vermögen einfach untergehen zu lassen.« So der damalige PDS-Vorsitzende Gregor Gysi im August 1991. Das Überleben eines Unternehmens müsse auch dann Ziel der Treuhand sein, wenn dieses »Neues Deutschland« heiße. Das war mehr Wunsch als Feststellung. Laut Wolfgang Spickermann, ND-Chefredakteur von November 1989 bis 1992, versuchte die Treuhandanstalt 1991 »zu holen, was zu holen war«. Es sei »ein Kampf« gewesen, der »politisch motiviert« war. Bis 1993 kämpfte das Blatt akut um seine Existenz - und gegen eine Treuhand, die sich als Spielball politischer Interessen erwies. Für Lothar Bisky war klar, das ND sollte »mundtot gemacht werden«.

Vor der Wende war die Presse in der DDR stark konzentriert. Organisiert war die Branche in Vereinigungen Organisationseigener Betriebe (VOB). Der größte davon, der VOB Zentrag - auf den 90 Prozent der Druckkapazitäten und der Papierzuteilung entfielen - gehörte der SED. 13 von 15 Druckereien wurden von der Zentrag kontrolliert. Die SED hielt rund 70 Prozent der gesamten Zeitungsproduktion, die 1987 täglich 6,5 Millionen Exemplare betrug. Die SED besaß 16 von 39 Tageszeitungen, darunter 14 Bezirkszeitungen mit einer Auflage zwischen 200 000 und 700 000 Exemplaren, die Titel des »Berliner Verlags« sowie das landesweite ND mit einer Auflage von etwa 1,1 Millionen Stück.

Wirtschaftlicher Druck

Im Jahr 1990 stand die Zeitung vor enormen wirtschaftlichen Herausforderungen: Sie musste in kürzester Zeit wettbewerbsfähig werden. Abonnements, vor allem Kollektivabos über Betriebe, entfielen. Im April 1990 endeten die Subventionen, der Preis stieg plötzlich von 15 auf 55 Pfennig. Im Juni 1990 lag die Gesamtauflage noch bei rund 325 000 Exemplaren, die monatlichen Einbußen bei 100 000 bis 200 000 DDR-Mark.

Umgehen mit dieser Situation sollte Wolfgang Spickermann, seit 1971 Wissenschaftsredakteur beim ND. Er wurde, wie er selbst sagt, am 14. November 1989 vom neuen SED-Politbüro als »Notlösung« zum Chefredakteur gemacht. Sein erstes Ziel habe darin bestanden, dafür zu sorgen, dass der Zeitung »die Leser nicht wegrennen«, jedenfalls nicht in einem existenzgefährdenden Ausmaß. Aber was war die Voraussetzung dafür, ein Blatt machen zu können, das »es wert war gelesen zu werden«?

Am 1. Juli 1990 trat das »Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens« (Treuhandgesetz) in Kraft. Es regelte das gesamte DDR-Volkseigentum, nicht aber das Parteivermögen. Bis zum 1. August 1990 sollten alle VEB in GmbHs umgewandelt werden. Obwohl der »Organisationseigene Betrieb« (OEB) Neues Deutschland kein VEB war, wurde er vorsorglich bereits im Juni 1990 umgewandelt. Die entstandene Neues Deutschland Druckerei und Verlag GmbH (ND-GmbH) hatte zwei Geschäftsführer: Wiederum Wolfgang Spickermann und Bernd Elias. 50 Prozent der Anteile hielt die PDS, die anderen 50 Prozent die Deutsche Druckerei und Verlagskontor GmbH (DVDK). Diese zählte zur Zentrag, also indirekt auch zur PDS.

Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 kam auch das Parteivermögen unter technische Verwaltung der Treuhand. Dazu gab es dort die Abteilung Sondervermögen. Entscheider war hier die sogenannte Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR. Die Rechtsaufsicht hatte das Bundesinnenministerium in Bonn.

Politische Sonderbehandlung

Bis die neuen Verhältnisse für die Zeitung konkret wurden, vergingen einige Monate. Dann, am 11. März 1991, erhielt die ND-GmbH einen ersten Treuhand-Bescheid: Laut Paragraf 29 Parteiengesetz stehe die GmbH ab sofort unter Treuhandverwaltung. Die Antwort der ND-Geschäftsführung: Da liege wohl ein Fehler vor, denn »dieses Gesetz enthält nur 24 Paragrafen«. Der Versuch, eine »unabhängige Tageszeitung derart unter staatliche Kontrolle zu stellen«, sei mit Artikel 5 des Grundgesetzes unvereinbar. Das ND legte Widerspruch ein. Der Bescheid war nicht rechtswirksam.

Im Mai 1991 vereinbarte die DVDK als eine der beiden ND-Eignerinnen mit der Kölner Medienagentur Media Consulta - die dazu von der Treuhand beauftragt worden war - die Ausarbeitung eines Marketing- und Sanierungsplans. Das Blatt sollte bis Ende 1992 kostendeckend wirtschaften. Am 5. Juni 1991 wurde der Vertrag unterzeichnet, am 1. Juli lag der DVDK eine erste Einschätzung vor. Die monatlichen Verluste beliefen sich auf etwa 700 000 DM. Es bestehe aber »eine realistische Möglichkeit (…), die Kosten des ND kurzfristig drastisch zu reduzieren« - vor allem in den Bereichen Druck/Herstellung, Verwaltung und Personal. Der hierfür von der Media Consulta ermittelte Finanzbedarf betrug sechs Millionen DM.

Am 30. Juni 1991 schickte die Treuhand einen zweiten Bescheid, diesmal rechtswirksam. Die ND-GmbH stand ab Juli 1991 unter Treuhandverwaltung. Jedwede »Veränderungen des Vermögens« waren nur noch mit »Zustimmung der Treuhandanstalt wirksam«. Geschäftsunterlagen mussten jederzeit zur Einsichtnahme bereit liegen. Die ND-Geschäftsführung legte erneut Widerspruch ein: Der Bescheid stütze sich auf »wahrheitswidrige Behauptungen«, blockiere den Geschäftsverkehr, schränke »grundrechtliche geschützte Rechte der Presse« ein und stelle eine »Verletzung des Rechts auf den Schutz von Autoren« dar. Als Reaktion darauf wollte die Treuhand zunächst einen eigenen Geschäftsführer einsetzen. Laut Gysi war dies »ein Fall des ›Übermaßes‹«. Er protestierte - und die ND-Geschäftsführer durften bleiben.

Laut PDS und ND-GmbH konnte die Sanierung allein aus Mitteln der DVDK gestemmt werden. Mittel der Treuhand seien nicht nötig. Die Treuhand sah das anders: Auch jene DVDK-Mittel stünden unter ihrer Verwaltung. Die Unabhängige Kommission wollte das Geld nicht freigeben. Laut Gysi sprach aus dieser Weigerung weder eine »rechtliche noch eine vermögensmäßige, sondern ausschließlich eine politische Begründung«. Ziel sei nichts anderes als die Liquidierung des ND.

Im August 1991 wurde der ND-GmbH von der Media Consulta Sanierungsfähigkeit bescheinigt. Der Plan: Die DVDK sollte im Januar bis Dezember 1992 monatlich 500 000 DM zuschießen. Am 28. August 1991 tagte dazu die Unabhängige Kommission, entschied aber nicht. Kurz darauf übersandte die Treuhand der Kommission das Gutachten zur Sanierung. Entstanden ohne Kenntnis der ND-Geschäftsführung, enthielt es neben der Feststellung jenes Bedarfs von sechs Millionen DM auch inhaltliche Vorgaben: »Die derzeitige Unterzeile «Sozialistische Tageszeitung» muss entfallen.«

Die Treuhand unterstrich die Dringlichkeit einer Entscheidung, sonst verringerten sich die Chancen auf eine Sanierung. Die ND-GmbH sei bis spätestens November 1991 zahlungsunfähig. Die Zustimmung musste aus Sicht der Treuhand erteilt werden, um es dem ND zu ermöglichen, sich am Markt zu behaupten. Doch die Kommission forderte - laut Spickermann »über Nacht« - ein eigenes Sanierungskonzept des ND. Am 8. September lagen dazu 14 Seiten vor, am 22. September sandte die ND-GmbH der Treuhand einen zusätzlichen siebenseitigen Rahmenentwurf. Eine Antwort blieb aus. Am 18. Oktober 1991 mahnten dann PDS, ND-GmbH und DVDK, dass »sich Anfang November erhebliche Schwierigkeiten bei der Liquidität des Unternehmens ergeben« würden. Es sei daher »dringend erforderlich«, die Zuführung von Geldern durch die DVDK zu gewähren. Kurz darauf lehnte die Kommission den Antrag ab.

Stattdessen beschloss die Kommission am 22. Oktober 1991 die vorzeitige Entlassung der ND-GmbH aus der treuhänderischen Verwaltung. Laut Bescheid sollte das unter Einschluss aller »Forderungen und Verbindlichkeiten« geschehen, ausgenommen waren Immobilien. Widerspruch sei nicht möglich. So wurde das ND ohne Vermögenswerte und ohne die Möglichkeit finanzieller Zuschüsse durch die DVDK in den Markt »entlassen«. Das war als Vorgehen einzigartig. Zuvor und auch später betonten Treuhand und Kommission wiederholt, eine solche Teilentlassung sei unzulässig.

Danach fiel die ND-GmbH in ein finanzielles Loch. Am 26. Oktober 1991 startete das Blatt die Spendenaktion »Eine Million bis Silvester«. Am 27. Oktober folgte ein Brief Gysis an alle PDS-Landes- und Kreisvorsitzenden. »Unser Kurs der Zusammenarbeit (...) wird ausschließlich gegen uns genutzt«, so Gysi. Alle Tätigkeiten der Treuhandprüfer in PDS-Einrichtungen seien »ab sofort und bis auf Widerruf untersagt«. Die Anfrage Gysis, ob PDS-Mittel zur Sanierung der Zeitung eingesetzt werden könnten, wurde mit großer Verzögerung abgelehnt. Eine Sanierung des Blattes durch beide Gesellschafter war vereitelt.

Die Millionenspende

Das Überleben des Blattes gründete sich auf ihre Leserschaft. Jene Spendenaktion brachte bis Silvester 1991 tatsächlich rund eine Million DM ein. Dieser Betrag und ein erhöhter Preis finanzierten letztlich die Sanierung des Verlags und der Redaktion. Der seitens der Treuhand und ihrer Gutachter ermittelte Finanzbedarf von sechs Millionen DM, so Spickermann, war demgegenüber »frei erfunden«. Ein politisches Druckmittel im Kampf um Sanierung, Existenz und Eigentümerschaft des ND.

Mitentscheidend war aber auch ein Detail im Entlassungsbescheid der Treuhand: Zwar gehörte das ND-Verlagshaus am Franz-Mehring-Platz dem OEB Verlag Neues Deutschland, Grund und Boden aber vor allem der Deutschen Reichsbahn. Grundlage hierfür war ein Vertrag aus dem Jahre 1946.

Der Entlassungsbescheid hatte nun das Eigentum am Verlagshaus auf Reichsbahngelände nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Das ND konnte also vorläufig in seinen Räumen bleiben. Der folgende juristische Kampf zwischen Verlag und Bahn um jenes Haus, der sich über Jahre zog und die Zeitung zeitweise zu einem Umzug an den Berliner Osthafen zwang, steht auf einem anderen Blatt.

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