Unehrliche Makler

Wie Paris und London vor hundert Jahren den Nahen Osten aufteilten.

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 5 Min.

Auch viele Jahrzehnte später muss man mal kurz über das Klima reden: »Der Kontrast zwischen dem Wetter draußen und der Atmosphäre drinnen muss ein extremer Kontrast gewesen sein«, schrieb der britische Historiker Malcolm Yapp in seinem 1987 veröffentlichten Buch »The Making of the Modern Near East 1792-1923«: »Es herrschte kaum unterdrückte Feindseligkeit zwischen den Delegationen.«

Dabei waren die Rahmenbedingungen der Konferenz von San Remo geradezu brillant. Die Sonne schien, das Meer war ruhig, wie ein Bericht der Londoner Times damals akribisch genau vermerkte, als sich in dem italienischen Badeort vom 19. bis 26. April 1920 der oberste Rat der alliierten Mächte traf, um die Aufteilung des Osmanischen Reichs festzulegen.

Obwohl die Konferenz von San Remo zu den weniger bekannten Weichenstellungsereignissen der Weltgeschichte zählt, gehören die Entscheidungen, die damals getroffen wurden, zu den Folgenreichsten: Am Verhandlungstisch teilten Großbritannien und Frankreich große Teile des Nahen Ostens unter sich auf, zogen Grenzen, wo bisher keine waren. Die Briten erhielten Palästina, das damals neben dem heutigen Israel und den Palästinensischen Gebieten auch das heutige Jordanien umfasste, sowie Irak. An Frankreich hingegen gingen Syrien und der Libanon.

Offiziell sollten diese Völkerbund-Mandate dazu dienen, die Gründung unabhängiger Nationalstaaten zu begleiten. Doch die Akteure dieser eigenstaatlichen Bestrebungen mussten draußen warten, vor den Verhandlungsräumen. Dort trugen sie erheblich zur erwähnten Atmosphäre der Feindseligkeit bei. Oft kollidierten ihre Forderungen: In Palästina rivalisierten Araber und Juden, im späteren Mandatsgebiet Syrien prallten eigenstaatliche Ambitionen und politische Konzepte von mindestens einem Dutzend Gruppen aufeinander. Manche forderten ein Groß-Syrien, das, auf die heutige Landkarte bezogen, Libanon, Gebiete in der Türkei, Jordanien, Israel und die Palästinensischen Gebiete umfassen sollte. Andere wollten einen arabischen Einheitsstaat.

Auch wenn die Situation im damaligen Syrien mit dem heutigen Bürgerkrieg nicht zu vergleichen ist, fallen Parallelen auf: Damals wie heute gab und gibt es eine Vielzahl von Gruppierungen, von Forderungen, und damals wie heute blieb und bleibt die Frage offen, wie die internationale Gemeinschaft damit umgehen soll. In San Remo ging man einfach über diese Gemengelage hinweg.

Die sogenannten Mandate sollten der Weg zur politischen Neuordnung des Nahen Ostens sein, so wünschte es sich der Anfang 1920 gegründete Völkerbund. Seine Zielsetzung waren Frieden und Sicherheit in der Welt - doch in San Remo hatten die Vertreter des Staatenbundes kaum etwas zu sagen: Der Organisation fiel es nur zu, die Mandate zwei Jahre später abzusegnen, zu einem Zeitpunkt, an dem längst klar war, dass man im Grunde nur den Grundstein für zukünftige Konflikte gelegt hatte.

Denn weder Frankreich noch Großbritannien waren in Bezug auf die Erbmasse des Osmanischen Reichs ehrliche Makler. Während in San Remo getagt wurde, hatte Frankreich bereits damit begonnen, in Syrien und im Libanon Fakten zu schaffen: Neue Verwaltungsbezirke wurden etabliert, deren Grenzen anhand ethnischer und religiöser Bevölkerungsmehrheiten gezogen wurden. Gleichzeitig ging man über die über Jahrhunderte gewachsenen Strukturen hinweg und erweckte so notwendig den Anschein, die eine oder die andere Bevölkerungsgruppe zu begünstigen. Das Ergebnis: häufige Proteste, die vom französischen Militär ganz im alten Kolonialstil gewaltsam niedergeschlagen wurden. In Syrien und Libanon waren diese Entscheidungen die Petrischale, aus der auch noch Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit der beiden Staaten - Libanon 1942, Syrien 1946 - Bürgerkriege und Diktaturen erwuchsen.

Tatsächlich ging es Frankreich und Großbritannien nur vordergründig um einen begleiteten Übergang zur Unabhängigkeit. Im Zentrum standen eigene Interessen - und San Remo diente vor allem Legitimationszwecken. Schon 1916 hatte man hinter verschlossenen Türen im nach zwei Diplomaten benannten Sykes-Picot-Abkommen die Region unter sich aufgeteilt: Großbritannien brauchte kurze Transportwege nach Indien, damals britische Kolonie. Frankreich indes sah sich auch als Schutzmacht der christlichen Bevölkerungsgruppen im Libanon. Zudem nahm mit der Industrialisierung das Wettrennen um die Ressourcen der Region zu - auch das kühlte die Temperatur in San Remo ab. London und Paris misstrauten einander. Und alle anderen misstrauten den beiden Großmächten aus Europa - aus gutem Grund.

Der Streit um die Vorherrschaft im Nahen Osten hatte bereits Ende des 18. Jahrhunderts begonnen: Um an Einfluss zu gewinnen, unterstützten Großbritannien und Frankreich nationalistische oder Unabhängigkeitsbestrebungen in den vielen Bevölkerungsgruppen des Osmanischen Reichs. Sie schürten Aufruhr, um dem Sultan dann Zugeständnisse abzuringen. Dass man dabei oft auch miteinander kollidierende Versprechen abgab, fand vor allem bei jenen Beachtung, die dann immer wieder feststellen mussten, dass das Wort des einen oder anderen nichts wert war.

Als die Konferenz in San Remo begann, galt Frankreich in Syrien und im Libanon längst als Besatzungsmacht, die ihre eigenen Interessen eiskalt durchsetzt - und das oft ganz offensichtlich auch, ohne an die Folgen zu denken. So sah man zunächst mit aufforderndem Blick zu, als im März 1920 in Damaskus das Königreich Syrien ausgerufen wurde, mit Faisal bin Hussein als »König aller Araber«. Das beabsichtigte Staatsgebiet: Syrien, der Libanon, Teile der Türkei sowie das damalige Palästina, das das heutige Jordanien, sowie Israel und die palästinensischen Gebiete umfasst.

Doch die Erwartung König Faisals, diese Gebiete dann auch tatsächlich zu kontrollieren, wurde in San Remo durch die Aufteilung der Mandatsgebiete enttäuscht. Im Juli 1920 besiegte dann das französische Militär bin Husseins kleine Armee. Sein kurzlebiges Königreich war bereits wieder Geschichte. Erst 1941 erkannte das freie Frankreich die Unabhängigkeit Syriens an. Doch tatsächlich kontrollierte Paris das Land weiterhin und forderte von der neuen Regierung, weitgehenden französischen Einfluss zu akzeptieren. Mehrmals kam es zu Kämpfen. Noch 1945 bombardierte die französische Luftwaffe Damaskus. Am 17. April 1946 verließen dann die letzten französischen Truppen eine Region - in der die offenen Fragen immer noch so ungeklärt waren wie 1920.

Der letzte osmanische Herrscher Mehmed IV. aber, 1922 entthront und exiliert, starb sechs Jahre nach der Konferenz, die sein Reich verteilt hatte - ausgerechnet in San Remo.

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