Viruspause für ÖPNV-Ziele

Auch bei Tarifverhandlungen in der Nahverkehrsbranche sind die Uhren angehalten

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Coronakrise und der seit Mitte März anhaltende Shutdown haben auch die für den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zuständigen Verkehrsbetriebe in eine tiefe wirtschaftliche Krise gestürzt. Wie ein Sprecher des Branchenverbands VDV auf nd-Anfrage mitteilte, reißt der drastische Rückgang des Fahrgastaufkommens in Bussen, Straßen- und U-Bahnen tiefe Löcher in die Finanzierungsbasis der überwiegend kommunalen Unternehmen. »Es geht ans Eingemachte«, so der VDV-Sprecher.

Seit Wochen nutzen Schüler und Studierende, Millionen Berufstätige in Kurzarbeit oder Homeoffice sowie Gelegenheitsfahrer die Busse und Bahnen nicht mehr oder nur selten. Gleichzeitig halten die Verkehrsbetriebe eine Grundversorgung von im Schnitt 75 Prozent des planmäßigen Angebots aufrecht. Lediglich der reine Schülerverkehr wurde vorerst aus dem Plan genommen.

Zum Schutz der Beschäftigten vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus bleibt in den meisten Bussen die vordere Tür geschlossen. In Straßen- und U-Bahnen sitzen Fahrer in der Regel ohnehin in einer Kabine ohne direkten Kundenkontakt.

Die meisten ÖPNV-Betriebe haben den Rückgang der Verkehrsleistung bisher ohne Kurzarbeit bewältigt. Meist werden angehäufte Überstunden abgebaut und Resturlaubsansprüche wahrgenommen. Die Krise hat indes vielerorts Einstellungsverfahren und Fahrschulunterricht für den Berufsnachwuchs ausgebremst.

Der VDV hat die finanziellen Folgen des Fahrgastrückgangs in verschiedene Szenarien gefasst. Sollte der Shutdown bis Anfang Mai anhalten und der Verkehr ab dann bis zu den Sommerferien allmählich wieder in die »Normalität« hochfahren, so läge der Einnahmeverlust der ÖPNV-Verkehrsunternehmen bei rund fünf Milliarden Euro. Falls der Shutdown noch bis Ende Mai andauert, droht nach VDV-Angaben ein Verlust von rund sieben Milliarden.

Die Beträge beziehen sich auf das laufende Jahr und die Einnahmen aus dem Fahrscheinverkauf. Daneben finanzieren sich die bundesweit rund 400 Verkehrsbetriebe und Verbünde auch aus Bundesmitteln in Milliardenhöhe, die über die Länder als Aufgabenträger und Kommunen verteilt werden. Weil Städte und Gemeinden die Belastungen aus dem Einbruch beim Fahrscheinverkauf nicht alleine stemmen könnten, müsse der Bund nach Auffassung des VDV hier erhebliche finanzielle Hilfen leisten. Schließlich gehe es um eine klassische Aufgabe der Daseinsfürsorge und gleichzeitig um einen wesentlichen Beitrag zu einer ökologischen Verkehrswende.

Die Krise der Nahverkehrsunternehmen hat auch direkte Folgen für die anstehende Tarifrunde. Lange und gründlich hatte die federführende Gewerkschaft Verdi darauf hingearbeitet, dass die Laufzeiten der Tarifverträge für den ÖPNV in den Ländern so weit koordiniert werden, dass ab Ende Juni 2020 parallel zu den Tarifverhandlungen bundesweit Warnstreiks möglich wären. Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und zur Einkommenserhöhung wurden formuliert. Nun ist die Tarifkampagne »vorerst ausgesetzt«, erklärt Verdi. »Wir halten die Uhr an, denn für uns steht jetzt an erster Stelle, in dieser Krise einigermaßen verantwortungsvoll zusammenzustehen und Gesundheit und Einkommen zu sichern«, so die Verdi-Fachgruppe Busse und Bahnen.

Bei den bundesweit über 130 000 ÖPNV-Beschäftigten hat sich durch Sparkurs und Privatisierungsdruck viel Wut angestaut. Laut der Gewerkschaft habe seit 1998 die Anzahl der Fahrgäste um 24 Prozent zugenommen, während die Zahl der Beschäftigten in den Verkehrsbetrieben um 18 Prozent gesunken sei. In über zwei Jahrzehnten hätten Arbeitsmenge, Stress und Belastung stark zugenommen. Dies habe die Gesundheit der Beschäftigten derart angegriffen, dass ein hoher Krankenstand die Regel sei. Zudem seien 40 Prozent aller Beschäftigten über 50 Jahre alt.

Mit Blick auf die Tarifrunde hatten die Verdi-Fachgruppe und die Klimaaktivisten von Fridays for Future den Schulterschluss vereinbart. In einer Erklärung unter dem Motto »Gemeinsam sind wir stark! Für eine sozial gerechte Verkehrswende 2020« sprechen sich beide Organisationen für koordinierte Aktionen aus, um die Bundesregierung zu einem Kursschwenk zu zwingen und Mobilität für alle Menschen zu erreichen. Auch wenn es nun vorerst nicht zu gemeinsamen öffentlichen Aktionen kommen dürfte – die gemeinsamen Ziele bleiben aktuell.

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